Berliner Bühnen und die Corona-Krise: Was es bedeutet, ein Theater über Nacht zu schließen
Die Schaubühne stellt nicht nur den regulären Spielbetrieb ein. Am Lehniner Platz muss jetzt auch ein internationales Theaterfestival abgesagt werden.
Auf die Größe kommt es jetzt auch im Theater nicht mehr an. Vor ein paar Tagen noch lautete die Ansage des Kultursenators Klaus Lederer an die landeseigenen Bühnen: keine Vorstellungen in Sälen mit mehr als 500 Zuschauern, zwecks Eindämmung des Coronavirus. Was immerhin die Fortsetzung des Betriebs in den Nebenspielstätten erlaubt hätte. Im Container des Gorki zum Beispiel, in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, im Neuen Haus des Berliner Ensembles. Nun aber ist gemeinsam mit den Intendanten die Entscheidung gefallen: die komplette Schließung bis zum 19. April. Vorerst.
Nichts spielt mehr. Von der Parkaue bis zur Schaubude, von der Volksbühne bis zum HAU. Ob und in welchem Ausmaß die unvorhergesehene Frühlingspause die Häuser in Schwierigkeiten bringt, ist gegenwärtig noch gar nicht absehbar. Klar ist nur, dass es die Privattheater, die auf Ticketeinnahmen dringend angewiesen sind, am härtesten trifft. Das Renaissance-Theater zählt dazu. Oder die Kudamm-Bühnen, die die Großproduktion „Mord im Orientexpress“ kurzfristig auf Eis legen mussten.
Auch die Schaubühne am Lehniner Platz ist de jure ein Privattheater. Hier torpediert die Corona-Krise nicht nur das Repertoire, sondern hat auch das Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) getroffen, das jedes Jahr im März stattfindet und namhafte Produktionen aus aller Welt versammelt.
Das Bühnenbild für Kirill Serebrennikov stand schon
Im großen Saal A hatten die Techniker bereits begonnen, das Bühnenbild für die Produktion „Outside“ des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov aufzubauen, ein Gastspiel aus Moskau. Er hat das Stück während seines Hausarrests entwickelt, die russische Justiz schikanierte ihn mit immer neuen Vorwürfen. Am Deutschen Theater hatte vor ein paar Tagen noch seine „Decamerone“ Premiere.
Jetzt arbeitet hier wie dort niemand mehr. Leere Bühne, leere Plätze. „Ein bisschen gespenstisch“, beschreibt der Künstlerische Leiter Thomas Ostermeier die Atmosphäre, er selbst fühle sich wie in Schockstarre. Im Theater sind nun mal keine Geisterspiele vorgesehen. 42 FIND-Vorstellungen mussten kurz vor Festivalstart abgesagt werden, 120 Künstlerinnen und Künstler reisen nicht an.
Es ist ein herber Schlag. Weil ein Jahr Planung und Vorbereitung womöglich umsonst waren. Und auch, weil mal wieder ein vielversprechendes Programm anstand. Mit Gastspielen von Milo Rau, Angelica Liddell, Toshiki Okada und weiteren Größen. Einige Künstler – aus Russland und Israel – hätten für ihre Auftritte in Berlin sogar in Kauf genommen, nach der Rückkehr in die Heimat automatisch 14 Tage lang unter Quarantäne gestellt zu werden.
Die Gesundheit des Publikums geht vor
Sicher, kurz vor Festivalbeginn, als der Berliner Spielbetrieb noch nicht komplett ausgesetzt war, hätte man auch überlegen können, nur Veranstaltungen in den kleineren Sälen stattfinden zu lassen, im Globe vor 275 Zuschauern zum Beispiel. Für Ostermeier war das aber nie eine Option. Er hätte es nicht fair gegenüber den größeren Gastspielen gefunden, die man nicht hätte zeigen dürfen.
Und selbstredend nimmt er die Sorge um die Gesundheit des Publikums ernst. Sein Theater als zweite „Trompete“ nebst der Schlagzeile: „Ein Großteil der Neuinfizierten hat sich beim FIND in der Schaubühne angesteckt“, das wäre sein Albtraum gewesen. Und hätte obendrein nach kaltem wirtschaftlichen Kalkül ausgesehen.
Über Geld wird trotzdem zu reden sein. Spätestens, wenn die Krise abflaut und die Schäden in vollem Ausmaß sichtbar werden. Durch die Absage des FIND und die Schließung bis zum 19. April droht der Schaubühne zwar nicht gleich die Insolvenz. Aber Tobias Veit, Mitglied des Direktoriums, betont, dass das Haus „strukturell extrem eng aufgestellt“ sei und keine Rücklagen habe, „auf die man im Krisenfall zurückgreifen kann“.
Schaubühne rechnet mit Einbußen von 130.000 Euro
Nicht nur deshalb stehen er und viele weitere Schaubühnen-Mitarbeiter jetzt vor enormen Herausforderungen. Flüge und Hotels für die Künstler und Gruppen aus aller Welt müssen storniert werden, mit Erstattung ist nicht zu rechnen, Transporte der Bühnenbilder nach Berlin haben schon stattgefunden. Und was wird eigentlich aus den vereinbarten Honoraren, mit denen gerade freie Ensembles fest kalkuliert haben? In den Verträgen existiert ja keine Corona-Klausel. Müssen sie ausbezahlt werden oder nicht? Das gilt es nun zu prüfen, in einer komplizierten Gemengelage aus juristischen und moralischen Verbindlichkeiten. Natürlich möchte Veit, ginge es nach ihm, niemanden hängen lassen.
Was feststeht: der Schaubühne gehen 130.000 Euro aus Ticketeinnahmen verloren. Das Festival war in diesem Jahr zum ersten Mal schon vor dem Start komplett ausverkauft, jede einzelne Karte muss nun erstattet werden. Zwar wird das FIND aus dem Festivalfonds des Landes Berlin gefördert, mit 500.000 Euro sogar. Aber die Kartenerlöse sind dennoch fest im Budget eingeplant und fehlen jetzt.
Viele Stammgäste verzichten auf eine Rückerstattung
Aktuell, erzählt Ulrike Schrul, die stellvertretende Kassenleiterin der Schaubühne, warten 400 Mails auf Antwort, „und minütlich trudeln mehr ein“. Das Kassenteam aus fünf Mitarbeitern schiebt Extraschichten, um alle Erstattungswünsche schnellstmöglich zu erfüllen – die meisten treffen auf dem Online-Weg ein, aber natürlich muss sich die Schaubühne auch darauf vorbereiten, dass Kartenkäufer direkt an der Kasse eine Rückzahlung wünschen, und entsprechend die Bargeldreserven aufstocken.
„99 Prozent der Kunden zeigen sich verständnisvoll“, sagt Schrul, „viele sind ja auch Stammbesucher, die jedes Jahr zum Festival kommen und teilweise extra dafür anreisen.“ Nicht wenige verzichten sogar auf eine Rückerstattung und spenden das Geld der Schaubühne, „um uns in diesen Zeiten zu unterstützen“. Der Kabarettist Florian Schröder hatte am Donnerstag zu dieser Geste gegenüber Kulturinstitutionen aufgerufen.
Thomas Ostermeier hofft noch, das Festival – zumindest in abgespeckter Form – im Herbst nachholen zu können. Aber natürlich vermag aktuell niemand zu prognostizieren, wie sich die Lage entwickelt. Ostermeier selbst probt gerade „Das Leben des Vernon Subutex 1“, die Premiere soll am 8. Mai stattfinden. Falls die Arbeit nicht unterbrochen werden muss. Denn italienische Zustände auch in Deutschland hält der Künstlerische Leiter nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich, sehr bald schon. Dann werden gespenstische Bilder Alltag sein. Nicht nur im Theater.
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