Neue Inszenierungen: Natur und Gewalt
Das „Find“-Festival der Schaubühne betreibt „Archäologie der Gegenwart“ – auch vor der Haustür.
Wenn man etwas Beruhigendes aus der Zukunft mitnehmen möchte, dann vielleicht dies: Dem Eisbären geht es prächtig, allem Klimawandel zum Trotz. Pumperlgsund, wohlgenährt und neugierig schnüffelnd stapft das mächtige Tier durch den Bauch des Schiffes, das eingeschlossen im nordischen Eis liegt. Und siehe da, er findet sogar noch mehr zu fressen! Menschen nämlich. Wie der wuschelige weiße Riese sich den abgerissenen Arm einer Passagierin schmecken lässt, deren letztes Stündlein damit logischerweise geschlagen hat, ist eine ziemlich beachtliche Szene. Man kann dem Bären jedenfalls nicht böse sein. So ist sie halt, die Natur!
Selten sieht man auf der Bühne so lebensecht herumtapsende Raubtiere. Und ebenso selten bekommt man im Theater Öko-Horror-Thriller geboten, die es mit Frank Schätzing und Co. locker aufnehmen können. „Arctique“ heißt diese Produktion, die sich die Brüsseler Theatermacherin Anne-Cécile Vandalem mit ihrer Kompanie „Das Fräulein“ ausgedacht hat. Zu sehen an der Schaubühne, wo sie die 19. Ausgabe des Festivals Internationale Neue Dramatik, kurz „Find“, eröffnet hat. Vandalem schickt ein Geisterschiff auf die Reise.
Das Vermächtnis einer Öko-Terroristin
Die „Arctic Serenity“ ist vor Zeiten mit einer Bohrinsel kollidiert, jetzt soll sie von Kopenhagen ins mittlerweile unabhängige Grönland geschleppt werden, um ein Luxushotel zu werden. An Bord sind auch einige blinde Passagiere mit undurchsichtigen Interessen, darunter ein Undercover-Journalist und die ehemalige dänische Premierministerin. Es geht um die Jagd nach Rohstoffen, die Ausbeutung der Inuit, die Folgen der Klimakatastrophe und das Vermächtnis einer sagenumwobenen Öko-Terroristin. In Szene gesetzt mit Live-Kamerateam und einer schrägen Bühnen-Kapelle aus älteren Herren. Die Plot-Twists sind dabei bisweilen absolut abenteuerlich, aber Vandalems genresicherer Mix aus grüner Dystopie, absurdem Humor und blutigem Seemannsgarn unterhält auf alle Fälle.
Mit „Archäologie der Gegenwart“ ist diese Festivalausgabe überschrieben, was ziemlich HKW-mäßig klingt und wohl irgendwie meint: ausgraben, was ist. Der Schwerpunkt liegt auf dokumentarischen Arbeiten und Experten des Alltags. Die chilenische Produktion „Paisajes para no colorear“ von Marco Layera erzählt mit nicht-professionellen Spielerinnen zwischen 13 und 17 Jahren von der alltäglichen Gewalt, der junge Frauen in ihrer Heimat ausgesetzt sind. Die britische Gruppe Kandinsky erzählt in „Trap Street“ eine zwar fiktive, aber der Realität abgeschaute Geschichte über die Gentrifizierung in London – am Beispiel eines sozialen Wohnprojekts, das vom Betongoldrausch gefressen wird.
Erstmals eine Inszenierung aus China
Die legendäre Wooster-Group kommt endlich mal wieder nach Berlin und zeigt „The Town Hall Affair“: die Auseinandersetzung mit einem Dokumentarfilm von D.A. Pennebaker über einen feministischen Schlagabtausch im New York der Siebziger. Und erstmals ist beim „Find“ auch eine Inszenierung aus China zu sehen, wo die Schaubühne ja wegen Ärgers mit der Zensur im vergangenen Jahr ihre „Volksfeind“-Reise abbrechen musste. „Popular Mechanics“ von Li Jianjun versammelt wiederum nichtprofessionelle Spieler, die in allerlei Heldenrollen schlüpfen, von Hamlet bis zum Hongkong-Movie.
Auch Mai-Phuong Kollath, Khanh Nguyen und Mano Thiravong besitzen keine Schauspielausbildung. Sie sind Teil des Ensembles der Produktion „Danke Deutschland“, die Sanja Mitrovic im Festival-Rahmen zur Premiere bringt. Die Regisseurin inszeniert erstmals an der Schaubühne. Auch sie versucht sich an einer dokumentarisch basierten „Archäologie der Gegenwart“, am Beispiel zweier Verbrechen: dem wenig im Bewusstsein verankerten, rechtsradikalen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Hamburg 1980, bei dem zwei junge vietnamesische Geflüchtete ermordet wurden. Und den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992, die ja unter anderem ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter trafen. Mai-Phuong Kollath und ihr Mann lebten damals gegenüber des sogenannten Sonnenblumenhauses, sie hat als Café-Betreiberin früh ihre eigenen Erfahrungen gemacht mit Neonazis.
Das doppelte Fremdsein
Sanja Mitrovic spürt in ihrer Inszenierung, die auch Veronika Bachfischer, Felix Römer, Kay Bartholomäus Schulze und Lukas Turtur aus dem festen Schaubühnen-Ensemble einbindet, verschiedenen biografischen Migrationspfaden nach. Denen der „Boat people“, die in den späten Siebzigern auch in der Bundesrepublik zu Tausenden Zuflucht fanden. Und eben der Vertragsarbeiterinnen, die in der DDR ein oftmals isoliertes Leben führten. Ihnen gemeinsam ist die im Stücktitel eingeflüsterte, vermeintliche Verpflichtung zur Dankbarkeit. Verbunden mit dem unausgesprochenen Appell, nicht aufzufallen und sich nicht zu beklagen.
Khanh Nguyen erzählt davon, wie ihr Vater und Onkel nach der Wende in Dresden ein China-Restaurant eröffneten, weil vietnamesisches Essen den Deutschen wohl nicht schmecken würde. Und sie berichtet auch vom doppelten Fremdsein: in Dresden lebten viele Nordvietnamesen, ihre Familie aber stammte aus dem Süden. Von solchen erhellenden Momenten gibt es etliche in „Danke Deutschland“.Nur leider gelingt es Mitrovic letztlich nicht, die Vielzahl ihrer Erzählstränge zu einem stringenten Ganzen zusammenzuführen. Als Archäologin hat sie beim Graben die Richtung verloren.
Die nächsten Vorstellungen von „Danke Deutschland“: 6.4., 17 Uhr, weitere im Mai
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