Drohungen, Übergriffe, Anschläge: Warum Berlin-Neukölln ein Rechtsextremismus-Problem hat
Berlin-Neukölln gilt als Bezirk der Clans und Hipster. Doch es kommt hier regelmäßig zu rechtsextremen Übergriffen. Ein Blick auf das „andere“ Neukölln.
Die Schriftstellerin Tanja Dückers kam 1968 in West-Berlin zur Welt. Sie hat mehrere Jahre in Neukölln gewohnt. Zuletzt erschienen: „Schoki Doki – Geschichten einer Schokoladenliebhaberin“ (bübül Verlag).
Kaum ein Bezirk hat sein Image derart schnell gewandelt wie Neukölln: Weit über Berlin hinaus war Neukölln lange Synonym für sogenannte Parallelgesellschaften und Clan-Kriminalität, für Armut, Arbeitslosigkeit und Abgehängt-Sein.
Die Wendeverlierer-West schienen hier zu leben, diejenigen, die vom Epochenwechsel nicht viel mitbekommen hatten: Honecker hü oder hott, König Alkohol regierte unvermindert weiter.
Der Kauf eines U-Bahntickets vom Hermannplatz zum Alex, um sich mal „ditte da hinta der Maua“ anzuschauen, wurde verworfen, wenn der Hund an dem Tag noch nix zu Beißen gehabt hatte. Die Rütli-Schule geriet bundesweit in die Schlagzeilen, als die Direktorin die Schule verließ und der Unterricht im Chaos versank.
Das coole "Kreuzkölln" verstellt den Blick auf das "andere" Neukölln
Seit ein paar Jahren zieht es nun Akademikerkinder aus Süddeutschland nach „Kreuzkölln“, dem cool gewordenen Teil von Nord-Neukölln. Die Sonnenallee gilt nicht mehr als trashige Asselstraße, sondern als hippe Multikultimeile.
An Orten wie dem „K-Fetisch“ finden die neuesten Szene-Diskussionen über queer-rebellische Kopftuchträgerinnen statt, im "Klunkerkranich" trifft man sich zur veganen Mango-Chia-Bowl, in den Neuköllner Clubs wurden vor der Pandemie die ausgelassensten Partys der Stadt gefeiert.
Dies alles verstellt den Blick auf das „andere“ Neukölln, das es auch gibt und das leider viel von sich reden macht: Das Neukölln der rechtsextremen Szene. Besonders der Süden Neuköllns gilt als Kerngebiet vieler Rechtsextremer.
Anschläge auf Buchläden und Autos
Seit 2010 ist es immer wieder zu Anschlägen, Brandstiftungen, Sachbeschädigungen, Einschüchterungen und Morddrohungen gekommen. Was bei früheren Wahlen braun gewesen ist, ist heute oft AfD-blau. In einigen Wahllokalen erreichten AfD-Kandidaten bei der letzten Wahl Ergebnisse von knapp 27 Prozent der Stimmen (allerdings, anders als in manchen Ostbezirken, kein Direktmandat).
Als im Herbst 2016 einige Neuköllner Buchläden in Kooperation mit der Amadeu-Antonio-Stiftung Diskussionsabende unter dem Motto „Was tun gegen die AfD? Aufstehen gegen Rassismus“ organisierte, ließ die Reaktion nicht lange auf sich warten.
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Den Besitzer der Buchhandlung „Leporello“ in der Krokusstraße in Alt-Rudow, Heinz Ostermann, griffen Unbekannte gleich zwei Mal innerhalb von sechs Wochen an. Faustgroß waren die Einschläge von Steinen in seinem Buchladen.
Wenige Wochen später wurde sein Auto in Brand gesteckt – direkt vor seiner Wohnung in Britz. Die Täter hatten ihn ausspioniert. Es folgte ein Brandanschlag in der Hufeisensiedlung auf das Autos des IG-Metall-Aktivisten Detlef Fendt, der sich der lokalen NPD immer wieder in den Weg gestellt hatte.
Es werden gezielt Personen attackiert, die sich gegen Rechts engagieren
Als nächstes wurden die Autos der Neuköllner SPD-Politikerin Mirjam Blumenthal und einer weiteren Mitarbeiterin der „Falken“, einer SPD-nahen Jugendorganisation, die sich zudem gegen Rechts engagiert hatte, angezündet. Ein Brandsatz unter dem Rollladen des Cafés „K-Fetisch“ im Erdgeschoss eines Wohnhauses in der Wildenbruchstraße hätte vermutlich mehrere Menschenleben gekostet, hätten Nachbarn das Feuer nicht rechtzeitig gelöscht.
Laut Innensenator Andreas Geisel werden diese Straftaten seit mehreren Jahren gezielt auf Menschen verübt, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Dass die Attacken im persönlichen Umfeld der Opfer passieren, folgt für Bianca Klose, Mitbegründerin der Beratungsstelle MBR (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus) einer klaren Strategie: „Die Neonazis wollen einschüchtern. Es ist ein beängstigendes Gefühl, wenn sich Neonazis ins Haus vorwagen. Da stellt sich die Frage: ,Stehen die irgendwann vor der Tür?’“
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Immer professioneller gingen die Rechtsextremen vor, zum Beispiel bei der Recherche nach Adressen, resümiert Klose. „Rote Drecksau“ tauchte in Kombination mit dem vollen Namen des Opfers an dessen Hauswand auf. Als die Scheiben des linken Aktivisten Tim H. eingeworfen wurden, brachte er gerade gemeinsam mit seiner Frau die Kinder ins Bett.
130 registrierte rechte Straftaten seit September 2019
Auf das Haus einer Neuköllner Sozialarbeiterin wurden nicht weniger als sieben Anschläge verübt. Sie hatte lediglich rechte Wahlkampfhelfer gebeten, keine NPD-Werbung in ihren Briefkasten zu stecken. Das Auto ihrer Tochter wurde mit „Juden raus“ beschmiert, die Scheiben ihres Wohnzimmers mit Steinen eingeworfen. Auch das Auto eines Kommunalpolitikers der Linken, Ferat Koçak, wurde direkt neben seinem Haus angezündet; es brannte bis auf die Karosserie aus.
Die Rechtsextremismus-Expertin Bianca Klose fand sich selbst vor einigen Jahren mit vollem Namen und Foto auf der Internetseite des rechtsextremen „Nationalen Widerstand Berlin“.
Seit September 2019 registrierten die Ermittlungsbehörden laut Senatsverwaltung 130 rechte Straftaten in Neukölln. Die Mehrheit der Vorfälle (81) sind sogenannte Propagandadelikte wie gesprühte SS-Runen, Hakenkreuze und Hitlergrüße. Offenkundige antisemitische Ressentiments sind dabei längst alltäglich geworden, insbesondere seit Beginn der Corona-Pandemie. Denn für Corona werden von Verschwörungstheoretikern gern „die“ Juden verantwortlich gemacht.
Die Leiterin einer Lesben-Initiative wurde auf der Straße bedroht
Die Liste der Senatsverwaltung führt aber auch gewalttätige Übergriffe auf. Einer der jüngsten Vorfälle ereignete sich am Samstagnachmittag vor einer Woche: Ina Rosenthal, Leiterin von „RuT – Rad und Tat – Offene Initiative lesbischer Frauen“, wollte auf der Schillerpromenade einen kurzen Dreh zu „queeren Räumen in der Coronakrise“ machen.
Doch ihr Kameramann und sie kamen nicht weit: Kaum begann Rosenthal zu sprechen, beleidigte und bedrohte eine Gruppe junge Männer sie. „Scheiß Lesbe, ich mache dich platt“ waren noch die freundlichsten Worte, die sie zu hören bekam. Über eine Stunde lang wurden Frau Rosenthal und ihr Kameramann bedroht und beschimpft, mitten in der Öffentlichkeit.
Die Passanten auf der belebten Schillerpromenade, darunter auch viele junge Leute, interessierten sich nicht für den Vorfall, griffen nicht ein. Die Polizei musste gerufen werden.
Neukölln sollte in seiner Komplexität wahrgenommen werden
Keine zwei Wochen zuvor war auf der Sonnenallee die „Konditorei Damaskus“ des syrischen Konditors Tamim al-Sakka mit SS-Runen beschmiert und ein Lieferwagen vor dem Laden in Brand gesetzt worden. Und laut RIAS (Recherche- und Informationszentrum Antisemitismus Berlin) wurde im Juni ein jüdischer Gast eines Neuköllner Lokals verwiesen, weil er Verschwörungstheorien eines Mitarbeiters hinsichtlich einer zionistischen Urheberschaft der Pandemie als antisemitisch bezeichnete.
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Es wird höchste Zeit, dass Neukölln, mit 330.000 Einwohnern einer der bevölkerungsreichsten Bezirke Berlins (größer als Münster), stärker in seiner Komplexität wahrgenommen wird. Alte Berliner Arbeiterklasse, Wendeverlierer-West, abgehängte und erfolgreiche Migranten, unterversorgte Schüler, Partygänger, Start-Up-Trendsetter, Antidemokraten, Antisemiten und -muslime, Deutschenfreunde und -hasser und Homophobe: Sie alle leben hier.
Über 60 ungeklärte Fälle sollen noch einmal aufgerollt werden
Der Blick war jedoch zu lange fast ausschließlich auf die Probleme sogenannter migrantischer Parallelgesellschaften gerichtet und zu wenig auf rechtsideologisch agierende und menschenfeindlich gesinnte Kreise und Einzelpersonen.
Ermittlungen wurden immer wieder eingestellt, die meisten Täter nie gefasst. Immerhin: Vor einem Jahr ist auf Initiative von Innensenator Geisel die Kommission „Fokus“ eingerichtet worden: Über 60 ungeklärte Fälle sollen noch einmal aufgerollt werden, darunter 2800 (!) Brandstiftungen, die in den letzten sieben Jahren in Neukölln verübt worden sind. Auch möglichen Verstrickungen von Polizeibeamten im Bezirk soll nachgegangen werden. Denn es gab immer wieder Hinweise auf mögliche rechtextreme Verbindung bis in die Neuköllner Polizei hinein, Vermutungen, dass Täter informiert oder gewarnt worden sind.
Buchhändler Heinz Ostermann ist schon mal mit gutem Beispiel vorausgegangen: Er hat einen Teil seiner Veranstaltungseinnahmen an „Exit Deutschland“ gespendet, ein Projekt für Aussteiger der rechtsradikalen Szene.