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Wo steht Peter Wawerzinek? Ostdeutsche, die 1989 vor einer Sparkassenfiliale in West-Berlin auf ihr Begrüßungsgeld warten.
© Imago

Peter Wawerzinek erinnert sich an den 9.11.1989: Von Pässen und Pennern

9. November 1989: Trinken, Reden, Staunen, Freundschaft schließen – in beiden Teilen Berlins / Eine Erinnerung von Peter Wawerzinek.

Erst geht in unserer Kneipe das Radio nicht mehr. Dann ist das Bier alle, und der Wirt verkündet Ausschankschluss. Und dann kommt ein Bekannter an unseren Tisch, sagt, er werde jetzt in den Westen gehen, dort ein Bier nach dem Reinheitsgebot trinken. Der Beton sei passé. Man könne jetzt durch die Mauer schlüpfen. Wir murren und sagen dem, dass er uns schon früher hätte informieren können darüber, einen Ausreiseantrag gestellt zu haben, der ihm nun genehmigt worden ist. Genehmigung, höhnt der. Alle dürfen jetzt rübermachen. Nennt uns Hinterwäldler. Und ist verschwunden.

Als wir dann auf der Straße sind, ist da alles wie sonst. So tapsen wir denn Richtung Bahnhof Friedrichstraße, vorbei an der Ständigen Vertretung, und halten das Ganze für Mundpropaganda. Am Tränenpalast steht ein klägliches Grüppchen, trampelt auf der Stelle. Die Volkspolizei steht stumm und still. Eine tätowierte Frau mit Berliner Schnauze motzt die Polizisten an, sie sollen machen, uns durchlassen, ihr Bruder sei bereits drüben. Sie habe man zurückgewiesen, weil sie keinen Ausweis dabeigehabt hätte. Hier sei nun der Ausweis, nun aber hurtig, tönt sie lauthals, nennt die Polizisten Polypen, sagt, dass es jetzt aus sei mit dem Scheißstaat.

Und dann geht die Uhr auf Mitternacht zu. Ein untersetzter Polizist steigt auf ein Podest. Er ruft: Bürgerinnen und Bürger. Sie werden nun abgefertigt. Ein Volkspolizist, der Bürgerinnen sagt, sagen wir uns, das ist neu an der Sache. Und so beschließen wir, mit den Leuten mitzugehen, zu schauen, zu schnuppern. Auf dass wir späteren Generationen unsere persönlichen Eindrücke vom historischen Ereignis mitteilen können. Wir halten unsere Ausweise hin, der Stempelmann drückt seinen Stempel hinein, schon wechseln wir von Ost nach West. Besser gesagt, wir werden mitgerissen, wie Wurstmasse durch den schmalen Grenzdarm. Treppen hoch, Treppen herunter, über Bahnsteige, in die S-Bahn, wo wir eng an eng mit all den Leuten stehen. Die Bahn ruckt an. In die Unwissenheit fahren wir, in den Westen. Und kommen dort an. Und finden, der Westen sieht gar nicht nach Westen, sondern eher wie der Osten aus. Im Tunnel keine Werbung, nur Kacheln. Und auch kein Geruch nach Apfelsine, Westpaket und Kaugummi. Die Treppe hoch, steht da ein DDR-Motorrad Marke Simson am Ausgang.

Wir sind im Freien und vom Trubel erschrocken. Klinken uns sofort aus, suchen uns seitlich weg von allen Massen zu schlagen. Weg, nur weg vom Jubelvolk. Und geraten nach Kreuzberg. Da sind wir also im Westen der Stadt, sagen wir uns. Und befürchten, dass alles eine gemeine Finte ist, man uns vorsätzlich ins Niemandsland gelockt hat. Von böser Ahnung geleitet, holen wir unsere Ausweise hervor, vergleichen die Stempel und stellen fest, dass man einem von uns ein grünes Stempelauge ins Passbildgesicht gedrückt hat. Ein Brandmal. So viel steht fest. Ein Zeichen. Eine Art Sondierung gegen lästige Personen, um tätig werden zu können gegen Subjekte und Abtrünnige.

Wir kriegen das Bier umsonst

Wir sind in die Falle gelaufen. Von uns kommt zumindest einer nicht mehr ungeschoren nach Hause zurück. Der hat das Recht auf Aufenthalt im Osten verwirkt. Der Schock sitzt tief. Wir kommen an einem Kino vorbei. Ich habe Westgeld dabei, hole Flaschenbier. Sechzehn Mark fordert die Tresenfrau. Dann entdeckt sie uns als Ossis, ruft: Meine ersten Ossis. Wir kriegen das Bier umsonst. Den Geschmack der Freiheit, sagt sie, werden wir allzeit auf der Zunge haben. Und dann stoßen wir an. Auf die Freiheit, den neuen Zusammenhalt, die Freude darüber, dass Berlin wieder eine Stadt ist, Deutsche Deutsche sind und nicht mehr in Ost oder West unterteilt.

Wir fühlen uns auf der anderen Seite des Mondes und kehren bei einem Griechen ein. Der steht mit ein paar Freunden am Tresen. Alle blicken sie auf die Drehscheiben des Glücksspielautomaten. Dann hält der Wirt mit seinen beiden Hände den Ausguck zu. Man hört nur noch die Scheiben rotieren. Im Lokal ist es mucksmäuschenstill. Der Wirt nimmt die Hände vom Automatenglas und dann ist hier der Teufel los. Der Wirt führt einen Solotanz auf. Alle jubeln. Man tanzt mit ausgestreckten Armen und ist dann an unseren Tisch. Wir sind für ihn richtige Glücksbringer, sagt der Wirt, spricht von einem Höchstgewinn, gibt Griechenschnaps aus, stellt uns griechische Köstlichkeiten hin, bis wir davon satt und am Ende betrunken sind.

Draußen vor der Tür sitzen wir dann zwischen einem Ostauto und einer Westlimousine auf dem Bordstein und wollen zum Freund gehen, der eine Riesenwohnung sein Eigen nennt, Jahre zuvor bereits ausgereist. Wir finden die Wohnung. Sie ist mit Menschen gefüllt, die um einen tragbaren Farbfernseher hocken. Mauerfall gucken. Wir sind zu betrunken dafür, legen uns hin, werden aus dem Schlaf gerissen, sollen uns beeilen, der Mitmieter unseres Freundes komme gleich von Arbeit. Das Zimmer ist seins. Der Freund bewohnt eine WG mit drei anderen Männern. Von der Riesenwohnung gehört ihm nur ein Zimmer. Also schälen wir uns unter den Decken hervor und wanken ohne große Körperpflege in die entsetzliche Frühe der befremdlichen Stadt, die immer noch von nimmermüden Jubelrotten okkupiert ist. Und wollen zurück, nicht länger im Westen bleiben.

Die aus dem Osten sollen die Stadt in ihre Hände nehmen!

Ich kaufe eine Tageszeitung. Auf dem Titelbild stehen die Leute am Brandenburger Tor oben auf der Mauer. Ob das echt ist, frage ich die Verkäuferin, oder nur eine gute Montage. Und ob das echt ist, antwortet sie. Das machen die jetzt so. Und dann sind wir in der Kochstraße, gegenüber einer Stadtzeitung, für die ich hin und wieder geschrieben habe. Daneben eine Sparkasse. Vor ihr lange Schlangen. Menschen, die für das Begrüßungsgeld anstehen. Für die Artikel gab mir ein Freund nie mehr als zwanzig Mark in West. Ich lasse meine Freunde im Café allein, bin bei der Zeitung, will das Geld vom letzten Artikel abholen, lande schließlich an der Kasse, bekomme zweihundertzwanzig Mark ausgezahlt, elf Mal mehr als sonst für einen Text vom Freund ausgehändigt. Der hat mich also ums Westgeld betrogen.

Mit dem Geld gehe ich zur Sparkasse, richte mir ein Konto ein. Halte die Ausweise meiner zwei Freunde hin, bekomme zusätzlich drei Mal hundert Mark Begrüßungssold überwiesen. Ohne Schlangestehen bin ich plötzlich ein Kontoinhaber, lasse mir einen kleinen Teilbetrag geben. Und schon laden wir die Rentnerin, die uns aus Freude über den Mauerfall auf eine Cola eingeladen hat, zum Kuchen ein. Apfelstrudel, sagt sie. Schön warm und mit viel, viel Sahne. Ihr Wunsch wird erfüllt. Sie soll bekommen, was sie am liebsten hat.

Und dann reden wir lange mit der alten Frau. Achtundzwanzig Jahre, sagt sie, waren wir doch umzingelt und in Westberlin eingeschlossen, Gefangene. Jetzt wird das anders, sagt sie. Die aus dem Osten sollen die Stadt in ihre Hände nehmen, alles wieder geradebiegen, was hier mit der Zeit schiefgewachsen ist. Wird gemacht, versprechen wir der Frau und gehen denselben Weg zurück. Man lässt uns trotz des grünen Stempels auf dem Passbild des Freundes wieder in die DDR hinein. Wir gehen auseinander. Wollen die Ereignisse erst einmal überschlafen.

Vor meiner Haustür fegt ein Freund wie als wäre nichts geschehen die Bürgersteige von Laub, Papier, Unrat und Hundekot frei, um sich mit dem verdienten Geld den Traum vom eigenen Auto zu erfüllen. Fegt da in stoischer Ruhe weiter den Bürgersteig. Sagt, er stünde in keinerlei Beziehung zu den erregten Leuten, die da im Westen wild herumspringen.

Er möge diese So-ein-Tag-so-wunderschön-wie-heute-Chorsänger nicht. Er möge diese frenetischen, überglücklichen, wilden Horden nicht, die von Ost nach West stürmenden Volksmassen, die den Westteil der Stadt mit ihren Rufen, ihrem Gedrängel, Gehupe und Autoqualm belasten. Ihn widere die so offen zur Schau gestellte Freude an, das Volk von Fahnenschwenkern. Ihm reiche vollkommen aus, was er so über sein kleines Radiogerät gehört habe. Er werde sich, vom Straßenfegen ermüdet, erst einmal zu Bett legen und ausschlafen. Und dann könne es vielleicht passieren, dass auch er einmal kurz in den Westen geht.

Am Morgen, berichte ich rasch, hätten wir uns zu den Pennern in ein Wartehäuschen gesetzt. Und die Penner hätten uns erzählt, dass sie gestern allesamt ihre Unterkunft nicht verlassen hätten, sondern vorm Fernseher geblieben wären, um sich das Spektakel anzusehen. Und sie hätten sich der Tränen nicht erwehren können und sich der Tränen auch nicht geschämt. Und einer von uns sagte danach anerkennend: Wenn Penner nicht einmal mehr hinausgehen wollen, sondern fernsehen, hey, Kinder, dann muss da wirklich etwas ganz Entscheidendes geschehen sein!

Peter Wawerzinek, geboren 1954, lebt als Schriftsteller in Berlin. Vor dem Mauerfall gehörte er zur Literatenszene vom Prenzlauer Berg. 2010 wurde er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm bei Galiani Berlin der Roman „Schluckspecht“.

Peter Wawerzinek

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