Ingeborg-Bachmann-Preis für Wawerzinek: Winterreise zur verlorenen Mutter
Sediment und Sentiment: Der Berliner Peter Wawerzinek gewinnt den 34. Ingeborg-Bachmann-Preis.
Am Erinnerungsort tropft es. Vereinzelt und lauwarm, wie mit verschämten Tränen, macht in der Gedenkausstellung für den im Oktober 2008 verunglückten Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider das Gewölbe auf sich aufmerksam. Am Fuße des Kreuzbergls, unweit von Ingeborg Bachmanns rosenumstandenen Wohnhaus in der Henselstraße 26, wehen vor dem Bergbaumuseum schwarzrote Fahnen. Eine schwarze Skulptur mit Haiders Schriftzug, in deren Inneren bronzene Männerhände einander innig drücken, geleitet in den ehemaligen Bunker. „Die Familie – Der Landeshauptmann – Der Tod“ lauten die Kapitel der Schau. Zwischen weißen Liliensträußen sind Haider-Devotionalien von der Geburtsurkunde – Haiders Eltern waren derart gläubige Nazis, dass sie sich im erzkatholischen Kärnten als konfessionslos eintragen ließen – bis zu seinen Anzügen zu bestaunen („Ein Landeshauptmann macht Mode“). Ein faschistoider Männlichkeits- und Todeskult wabert durch die niedrigen Gänge, die auf eine Wand zulaufen: Überdimensional wird darauf das Wrack des Unfallwagens projiziert. „Mögest du deine ,Sexualität’ jetzt ausleben können: Das gönne ich dir“, steht im Gästebuch. Im Oktober muss der Spuk einer Ausstellung über Wünschelruten weichen.
Die vermessene, ausgehöhlte, geschundene Erde war die Hauptdarstellerin dieser thematisch bemerkenswerten, dennoch verhaltenen 34. Tage der deutschsprachigen Literatur. Schon am Eröffnungsabend, als ein Gutteil des versammelten Literaturbetriebs innerlich bei der WM-Partie Deutschland gegen Ghana mitzitterte, senkte sich eine post-apokalyptische Stimmung über das ORF-Theater. Sibylle Lewitscharoff, die mit „Pong“ 1998 den Bachmann-Preis errungen hatte, sprach in ihrer „Klagenfurter Rede zur Literatur“ gewohnt skurril und eschatologisch „Über die Niederlage“ als charakterliche Herausforderung. Der scheidende ORF-Programmdirektor Wolfgang Lorenz konstatierte einen „Zustand der Auflösung“. Er beschwerte sich über die illiterate Jugend, die sich lieber „täglich im Internet auskotzt, statt zu schreiben“.
Die Juroren unter dem Vorsitz von Burkhard Spinnen, die sich wie Marcel Reich-Ranicki oder Karl Corino einst mit schneidender Schärfe in der Disziplin der Spontankritik ergingen, haben an Souveränität eingebüßt. Das liegt daran, dass jeder der sieben zwei Kandidaten vorschlägt und prämiert sehen möchte. Gerne hätte man die Runde ausführlicher debattieren und analysieren hören, auch bei „verfehlten“ Texten wie der winterlichen Irrfahrt eines Vertreters aus der Feder der Düsseldorferin Iris Schmid oder einem plakativen Gewalt-Exzess des Österreichers Josef Kleindienst. So herrschte bei der stets um Objektivität bemühten Berliner Kritikerin Meike Feßmann und dem ebenso fein- wie hintersinnigen Wiener Kulturkorrespondenten Paul Jandl, bei der Schweizer Mittelalter-Expertin Hildegard E. Keller sowie dem allzu subjektiv argumentierenden Basler Autor Alain Claude Sulzer („Die DDR muss zum Einschlafen gewesen sein“) gedämpfter Kammerton vor. Die Wienerin Übersetzerin Karin Fleischanderl schaffte es hingegen mit ihren pampigen Pauschalurteilen, regelmäßig alle gegen sich aufzubringen – eine glatte Fehlbesetzung. Als Gewinn kam in diesem Jahr der „Deutschlandfunk“-Redakteur Hubert Winkels hinzu.
Während die Ölbohrplattform Deep Water Horizon weiterhin Millionen von Litern in den Golf von Mexiko spuckt, machten sich die beiden innovativsten der 14 Wettbewerbstexte die Erde auf ihre spezielle Weise untertan: Die erst 24-jährige Dorothee Elmiger aus dem schweizerischen Wetzikon, die nach einem Semester am Leipziger Literaturinstitut jetzt in Berlin Politische Wissenschaften studiert, entfaltete in „Einladung an die Waghalsigen“ ein Endzeitszenario nach einem gewaltigen Feuer im Stollen eines Kohlereviers. Wie die Katastrophe in den USA übersteigt dieser Brand das Fassungsvermögen des Bewusstseins. Ein Foto von einer Katastrophe in Pennsylvania habe sie vor vielen Jahren zu diesem Stoff angeregt, sagt die Debütantin. Zwei einsame Schwestern lesen sich durch die übriggebliebene montanwissenschaftliche Bibliothek. Zitate dieser Lektüre, aber auch von Joseph Conrad oder Ferdinand Bruckner („Krankheit der Jugend“) mischen sich in den etwas schweizerisch-bürokratisch gehaltenen Haupttext, der dadurch „randomisiert“ wirke, wie die Jury bemängelte. „Einladung an die Waghalsigen“ erhielt den Kelag-Preis (10 000 Euro); das Buch erscheint im August bei DuMont.
Der 1975 in Gera geborene Astronom Aleks Scholz mag in seiner Jugend vom Standardwerk „Weltall Erde Mensch“ beeinflusst worden sein, das in der DDR zur Jugendweihe verteilt wurde. Darin sind zahlreiche geologische Karten abgebildet. In „Google Earth“ nimmt Aleks Scholz eine revolutionäre Perspektive ein: Aus dem All zoomt er einen Vorgarten in der Provinz heran, in dem es zu einer Selbstkompostierung kommt. „Und doch, was für wundervolle Geographen, Erdkundige, Erdbeschreiber wir damals waren, Störzer und ich!“ hieß es 1891 in Wilhelm Raabes Roman „Stopfkuchen“. „Google Earth“ erinnerte bei aller Modernität ans 19. Jahrhundert und wurde wegen seiner Makellosigkeit gelobt wie gerügt. Immerhin hatte der „Riesenmaschinen“-Mitbetreiber von Kathrin Passig (Bachmann-Preisträgerin 2006) das interessanteste Gedankenexperiment vorgelegt. In einer Kampfabstimmung gegen Sabina Janischs überladene Mystifizierung eines Nachkriegsschicksals in Schlesien, erhielt Scholz den Ernst-Willner-Preis in Höhe von 7000 Euro.
„Die Vergangenheit ist eine Höhle“, sagt Peter Wawerzinek. Er trug am Samstagmorgen, dem Tag der Favoriten, einen autobiografisch-rührenden Text voller romantischer Bezüge vor, den er einer kranken Freundin namens Hannelore widmete. „Ich finde dich / Rabenliebe“ erzählt von seiner eigenen Kindheit, die er in DDR-Heimen verbrachte. Der 1954 in Rostock geborene Peter Runkel war von seiner Mutter bei der Flucht in den Westen zurückgelassen worden. Seit Jahrzehnten versuchte der autodidaktische Poet und Performancekünstler diese schwärende Wunde in Worte zu fassen. Nach Michael Lenz’ Klagenfurter Triumph mit „Muttersterben“ (2001) gelang Peter Wawerzinek mit seiner stilistisch heterogenen, nicht durchweg überzeugenden Muttersuche nun Ähnliches: „Es schneit ins Wageninnere meiner Kindheitslimousine hinein. Schnee fällt von innen wie von außen. Mein Leben kennt keine andere Jahreszeit als den Winter.“ So siegte der älteste der diesjährigen Teilnehmer, vorgeschlagen von Meike Feßmann. Wawerzinek, der nie ein Literaturinstitut durchlaufen hat, sondern in der Welt Erfahrungen sammelte, gewann sowohl den mit 25000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis als auch den Hypo-Group-Publikumspreis in Höhe von 7000 Euro, der via Internet-Abstimmung vergeben wird.
Dass die Literaturtage traditionell ein „Auffangbecken für Wahnsinn und Demenz“ (Jandl) sind und „Sex immer eine Nagelprobe“ (Spinnen) darstellt, erwies sich auch in dem Selbstmord-Verhütungsmonolog des Schweizers Daniel Mezger. Die aus Anklam stammende Judith Zander gewann mit der beklemmenden psychologischen Innenschau einer schwangeren 16-Jährigen in der DDR den 3sat-Preis (7500 Euro). Völlig überraschend fiel die österreichische Favoritin Verena Roßbacher, die als erotische Sprachfurie auftrat, aus dem Rennen. Dadurch gingen, nun ja, erneut alle Preise an die „Piefkes“.
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