Pop-Newcomer Benjamin Clementine: Von der Straße zu den Sternen
In Paris schlief er noch unter Brücken, in London hat er das Heft fest in der Hand: Der britische Popmusiker Benjamin Clementine und sein wunderbares Debütalbum „At least for now“.
Von der Straße zu den Sternen. So lautet die Story, die seit den Anfängen der Popmusik von den Akteuren (oder ihren Hintermännern) immer wieder aufgetischt und vom Publikum begeistert gekauft wird. Der Künstler, der Armut und soziale Hindernisse überwinden muss und schließlich gegen alle Widrigkeiten triumphiert – das ist der Stoff, aus dem Pop-Mythen gemacht werden. Vom singenden Lastwagenfahrer Elvis bis zu den superreichen Gangsterrappern mit krimineller Vergangenheit reicht eine Genealogie, die mit Benjamin Clementine um eine schöne Erzählung bereichert wird.
Liest man Clementines – selbst verbreitete – Vita, könnte man ihren Wahrheitsgehalt anzweifeln. Da ist ein Junge, aufwachsend in London als jüngstes von fünf Kindern ghanaischer Einwanderer, der das Spielzeugklavier einer Mitschülerin klaut, es nach dem Donnerwetter zu Hause kleinlaut zurückbringt – und heute von diesem musikalischen Erweckungserlebnis schwärmt. Da ist ein scheuer, schmaler Teenager, der auf dem Schulhof gemobbt wird und sich in die Bibliothek flüchtet, wo er Gedichte von William Blake und T. S. Eliot verschlingt. Der die Schule früh schmeißt, aus dem verständnislosen Elternhaus flüchtet und London mit 19 frustriert den Rücken kehrt.
Clementine hält den Ball flach
Clementine schlägt mittellos in Paris auf, schläft buchstäblich unter Brücken. Und nimmt dann seinen ganzen Mut zusammen und fängt an, Musik zu machen. Man findet im Internet verwackelte Handyvideos aus dieser Zeit, auf denen man diesen immer noch sehr jungen, dünnen Mann sieht, wie er in der ratternden Metro selbst komponierte Songs vorträgt. Alles ist im Werden, die Lieder sind noch Rohlinge. Aber doch ist auch alles schon da: eine Stimme, die die Zuhörer sofort in Bann schlägt. Und eine Präsenz, wie man sie sogar im Aufmerksamkeit heischenden Popgeschäft selten findet. Zwei Jahre später ist der junge Mann wieder in London, eine Rückkehr im Triumph. Er lernt wichtige Leute kennen, er kann seine Stücke auf zwei EPs veröffentlichen. Er tritt in der TV-Musikshow „Later … with Jools Holland“ auf und wird von Sir Paul McCartney höchstpersönlich ermutigt.
Benjamin Clementine ist klug genug, in dieser heiklen Karrierephase den Ball flach zu halten. Statt den Hype um seine Person zu befeuern, gibt er wenige Interviews, tourt fleißig und arbeitet konzentriert an seinem Debütalbum. „At least for now“ (Behind/Universal) versammelt nun sechs Stücke der EPs und sieben neue Kompositionen, und trotz dieser Produktion in Etappen wirkt die Platte wie aus einem Guss. Was vor allem daran liegen dürfte, dass sich Benjamin Clementine nicht das Heft aus der Hand nehmen lässt. Er hat die Platte in den Londoner RAK-Studios selbst produziert, und er hat die Soundästhetik auf die zentralen Elemente seiner Musik zugeschnitten: seine Stimme und sein Klavierspiel.
Eine Stimme wie Nina Simone
Letzteres lässt den Autodidakten erkennen, der nie eine Musikschule besucht oder Unterricht genommen, aber bei seinen Favoriten genau zugehört hat. Oft klingen seine beidhändigen Akkordmuster so, als würde man Saties „Gymnopédies“ mit mehrfacher Geschwindigkeit abspielen. Dazu gesellen sich ein Kammerensemble, ab und zu ein zärtlich gewischtes Schlagzeug und ein behutsam gezupfter Bass. Aber dieser gern walzernde, gelegentlich dramatisch anschwellende Kammer-Jazz-Chanson-Pop ist wenig mehr als das Hintergrundrauschen, vor dem sich die eigentliche Sensation entfalten kann: Benjamin Clementines Gesang.
Es ist viel geschwärmt worden von dieser Stimme. Sie wurde mit Nina Simone verglichen, mit Antony Hegarty, Aretha Franklin, Rufus Wainwright oder dem Chansonnier Léo Ferré. Jeder dieser Vergleiche enthält Wahres und führt dennoch ins Leere. Vielleicht fällt es schwer, zuzugeben, dass hier einer außerhalb aller gängigen Kategorien singt, sich auch der Einordnung in maskuline oder feminine Klangmuster entzieht, ohne gleich eine Genderdebatte anzufachen.
Es bleibt kein Raum für Zweifel
Wer das alles nicht glaubt, dem sei empfohlen, am 17. Mai in den Heimathafen zu kommen. Wenn sich der betörend attraktive, mittlerweile 26-jährige Zweimetermann dort, wie im Februar im Grünen Salon, hinter sein Klavier faltet, mit hypnotisierendem Blick ins Publikum starrt und mit religiöser Inbrunst seine Lieder intoniert, bleibt kein Raum für Zweifel. „Out of absolutely nothing, I, Benjamin, I was born / so that when I become someone one day / I will always remember that I came from nothing“, singt er im schönsten Song „Condolence“ – und jedes Wort, jede einzelne Silbe klingt wahr.
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