Weihnachten mit dem Rias Kammerchor: Von der erhebenden Wirkung des Gesangs
Der Rias Kammerchor nimmt in der Gedächtniskirche sein Weihnachtskonzert auf. Ein Besuch bei der Rundfunk-Aufzeichnung unter Corona-Bedingungen.
Auch Christus kannte Corona. Als der Tontechniker den Zollstock für die ausreichende Distanz zwischen den Sängern einklappt, kann man sich des Gedankens nicht erwehren: Der schwebende Christus vor den blau schimmernden Fenstern der Gedächtniskirche weist mit weit ausgestreckten Armen den Weg. Sooo viel Abstand möge zwischen Euch sein.
Der Rias Kammerchor ist hier zusammengekommen, um sein Weihnachtskonzert aufzunehmen. Während sich draußen auf dem Breitscheidplatz Dutzende Menschen recht eng vor den Glühweinbuden tummeln, halten sie sich in Berlins berühmtestem Gotteshaus routiniert an die Regeln. Jede Sängerin, jeder Sänger ist eine Insel. Die gut 30 Mitglieder des renommierten Ensembles füllen mehr als den halben Raum.
„Wie kann man zusammenkommen, wenn alle alleine singen?“, fragt Chorleiter Justin Doyle. „Bei früher Mehrstimmigkeit geht das hervorragend, bei Neuer Musik in Kirchenräumen mit viel Hall ist es eine Herausforderung.“ Die Geschichte beweist, dass die Musik bei Pandemien nicht stirbt, sagt der 45-jährige Brite. In der Renaissance blühte die Vokalpolyphonie, mit der Pest um die Ecke.
Wie alles in diesen Tagen hat Doyle auch das Weihnachtsprogramm kurzfristig erstellt. Es ist ein Anti-Brexit- Konzert geworden, eine Mischung aus in Deutschland vertrauten Chorälen und Zeitgenössischem aus England.
Der Kammerchor greift außerdem eine altehrwürdige Tradition des King’s College auf, die des „Festivals of Nine Lessons & Carols“ mit Bibel-Lesungen und Gesängen im Wechsel. Seit 1918 wird dieser etwas andere Gottesdienst jedes Jahr an Heiligabend zelebriert, seit 1928 im Rundfunk übertragen, später auch im Fernsehen. Seit 1983 wird dafür jährlich eigens eine Carol-Komposition in Auftrag gegeben.
Fußballer atmen feuchter als Sänger
Doyle hat selbst im King’s College gesungen, jetzt bringt er die Tradition nach Berlin und integriert einige der Auftragswerke , das Sieben-Minuten-Stück „Seinte Mari moder milde“ von James McMillan oder auch Jonathan Doves vergnüglichen Song „Three Kings“. „Ein letzter Versuch, den Kontinent mit der Insel auf musikalischem Wege zu verbinden“, freut sich Doyle. Halb Andacht, halb Konzert: „Die Leute zu Hause können die Choräle mitsingen und gleichzeitig ein paar Geschenke auspacken, Neues kennenlernen.“
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McMillan zum Beispiel. Eherne Klangsäulen füllen den Kirchenraum, im Nu erklimmen die Soprane das hohe A, gleißende Akkorde, Ekstase. Die Orgel stimmt ein, von der Empore wehen Soli herbei. In dieser Flut von Tönen zu baden, von Stimmen umschlungen, ja bedrängt zu werden: Es ist das reine Glück, Die Maske, das ungemütliche Scheinwerferlicht für die Notenlektüre, die vorgeschriebenen langen Pausen, egal. Als Zaungast weiß man wieder, was einem fehlt, solange Konzerte nicht stattfinden können.
„Ich habe den gefährlichsten Beruf der Welt?“ Über die pauschalen Warnungen vor dem Gesang konnte die Altistin Waltraud Heinrich im Frühjahr nur lachen. „Fußballspieler atmen viel feuchter als wir.“ Seit 1986 ist die Trierer Winzerstochter im Rias Kammerchor, Singen ist ihr Leben. Beim ersten Wiederauftritt im September in der Philharmonie hat es sie wenig gestört, dass da statt 2000 nur 400 Menschen saßen: „Sie stehen da und sehen Leute im Saal, herrlich!“ Auch dem Bassbariton Johannes Schendel ist die besondere Intensität des Abends in Erinnerung.
Justin Doyle hatte dieses Neustart-Gefühl bei dem Musikfest-Konzert zum Programm erklärt und die Stückfolge wie eine Baumwurzel angelegt, von Hildegard von Bingen über die Zweistimmigkeit eines Orlando di Lasso und Gesualdos Sechsstimmigkeit bis zu Antonio Caldaras 16-stimmigem „Cruzifixus“. Nach dem Motto: „Lasst uns vorne anfangen“.
Chöre als Schicksalsgemeinschaft
Nach all den Splitscreen-Chören und häuslichen Soloaktionen im Netz – großartig die weltumspannende Wiegenlieder-Kollektion auf der Chor-Webseite – war im Sommer zunächst eine konzertierte Aktion der Berliner Profi-Chöre nötig geworden, um eine Lockerung des faktischen Berufsverbots zu erwirken. Die Chöre wurden zur Schicksalsgemeinschaft.
An das dann wieder erlaubte Singen auf Abstand hat sich auch der Kammerchor inzwischen gewöhnt. „Sich selbst hören, das kennt man von zu Hause, aber im Chor erwartet man eine Gruppe und bekommt keine“, so Waltraud Heinrich. Version: Dass es mehr Eigenverantwortung braucht, mehr Energie, hat auch Schendel an sich beobachtet. Es sei nicht einfach, „die ,Einsamkeit‘ innerhalb des Ensembles zu überwinden und das Augenmerk noch mehr als sonst auf Diktion, Klarheit, Ansatz und Intonation zu legen“. Corona als Chor-Schule? „Nicht immer angenehm, aber sehr gesund.“
Beim Weihnachtskonzert singt er das Solo in Herbert Howells „A Spotless Rose“, der so anrührenden wie very British Variante von „Es ist ein Ros’ entsprungen“. Nein, keine Dornen: Die sanften Dissonanzen bescheren einem einen Gänsehautmoment. Auch die zugeschaltete Tonmeisterin Clémence Fabre, deren Lautsprecherstimme wie aus dem Jenseits ertönt, ist zufrieden. Sonst hört sie auch die kleinsten Nuancen, hier zu viel Einzelkämpfertum, dort eine Unwucht zwischen erstem und zweitem Bass. Bitte noch einmal ab Takt 74.
Und die Zukunft? Geduld, Besonnenheit sei das Gebot der Stunde, sagt Johannes Schendel. Waltraud Heinrich bringt es auf den Punkt, bei allem Optimismus: „Der Winter wird noch zu Ende gehen müssen.“ Die gute Nachricht: Das Neujahrskonzert findet statt. Anstelle des geplanten aufwändigen Händeloratoriums „Judas Maccabäus“ überträgt der Deutschlandfunk am 1. Januar ein Live-Konzert mit der Akademie für Alte Musik, mit Werken von Händel und Francesco Durante. .
Musik mit dem eigenen Körper
Wie Doyle sind beide Choristen sehr dankbar für die deutsche Subventionskultur und die komfortable Situation einer Festanstellung über die Rundfunk und Chöre Orchester GmbH. In England existiert mit den BBC Singers nur ein einziges fest bezahltes Gesangsensemble. Und sie sorgen sich um die Laienchöre wie um die freischaffenden Profi-Sänger. Schendel kennt Kollegen, die im April mit Spargelstechen ihr Geld verdienen mussten. „Was, wenn die Zahlen in den Musikhochulen zurückgehen?“, fragt er. „Wenn dem Nachwuchs die Perspektive verloren geht, wo ist dann die Klassik in ein paar Jahren?“ Beim Grundstock der Ausbildung und den Nöten der Freien Szene sieht er Versäumnisse der Politik.
(Weihnachtskonzert am 23. 12., 20 Uhr, Deutschlandfunk Kultur. Ein Adventskonzert des Chors mit frühbarocken Werken wird diesen Sonntag, 6. 12., im Deutschlandfunk übertragen (21.05 Uhr). Ab 20. 12. als Videostream auf studio4culture.net. Dort ist bereits das Philharmonie-Konzert vom September als Video abrufbar)
Singen ist die einzige Möglichkeit, mit dem eigenen Körper Musik zu machen, sagt Justin Doyle. Ein Trost, etwas, das einen erhebt. "Orchester haben keinen Text, wir können etwas mitteilen, Poesie, eine Geschichte, ein Gebet, das funktioniert sogar über Sprachgrenzen hinweg. Das ist der Trost, der im Gesang steckt.“ Auch deshalb die Balkon-Gesänge im Frühjahr. Doyles Frau Bibi Heal ist selbst Sängerin, zuhause in einem kleinen Städtchen in Yorkshire hatte sie schon vor Corona das Projekt „Song Surgery“ gestartet. Menschen, die etwa unter Schlaflosigkeit leiden, können sich von ihr in einer leerstehenden Sparkasse im 1:1-Konzert besingen lassen und bekommen statt Rezept eine Playlist ausgestellt. Das ging auch im Lockdown. Und Doyle, der zeitweilig arbeitslose Dirigent, begleitete sie am Klavier..
In der Gedächtniskirche ist nach den Neutönern ein Traditionsstück dran, „Ding! Dong! Merrily on High“ klappt gleich beim ersten Durchlauf. Es folgt „Die Nacht ist vorgedrungen“ in einer Bearbeitung von Uwe Gronostay. Wieder sanfte Dissonanzreibungen, wieder eine Klangwolke, offene Akkorde, weit ausholende, einladende Harmonien. Die Kerze auf dem Adventskranz neben dem freundlichen Christus flackert im Luftzug.
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