Essays des Filmkritikers André Bazin: Vom wahren Schock der Kunst
Die Regisseure der Nouvelle Vague waren Schüler von André Bazin, Mitbegründer der „Cahiers du cinéma“ und wohl klügster Filmkritiker seiner Zeit.
Gerade laufen sie wieder, die Filmfestspiele von Cannes. Vor genau 50 Jahren wurden sie zum einzigen Mal abgebrochen, als der „Pariser Mai“ 1968 auch die Croisette erreichte und die Regisseure der Nouvelle Vague, an ihrer Spitze Jean-Luc Godard und François Truffaut, als filmkünstlerische Bugwelle der Revolte das Festival stürmten.
Frankreichs neues, junges Kino wurde freilich von gebildeten, ästhetisch-intellektuell geschärften Köpfen geprägt. Denn alle waren sie Schüler von André Bazin, dem wohl klügsten Filmkritiker seiner Zeit.
Vor einhundert Jahren, im April 1918, wurde Bazin geboren. 1951 hatte er die Mutter aller ambitionierten Filmzeitschriften, die „Cahiers du cinéma“, mitgegründet, und seine Autoren waren auch Truffaut, Godard, Jacques Rivette, Éric Rohmer oder Claude Chabrol. Zehn Jahre vor ’68 ist Bazin dann mit nur 40 Jahren an Leukämie gestorben. Nun bieten der 100. Geburtstag und 60. Todestag nicht nur formal einen Anlass, an den so tiefgründenden wie hellsichtigen Beobachter der Filmgeschichte zu erinnern.
Ein persönliches, schönes Vorwort von Tom Tykwer
Auf Deutsch hatten 1975 im Kölner DuMont Verlag Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling mit André Bazins „Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films“ eine erste Auswahl seiner filmkritischen Aufsätze ediert. Drei Jahrzehnte später erschien noch eine erheblich erweiterte, inzwischen durchgesehene und aktuell lieferbare Essaysammlung: André Bazin „Was ist Film?“, herausgegeben von Robert Fischer, mit einem Vorwort von Tom Tykwer und der Einleitung von François Truffaut, Übersetzung Robert Fischer und Anna Düpee (Alexander Verlag, Berlin, 340 Seiten, 29,90 Euro).
In seinem sehr persönlichen, schönen Vorwort verlockt Tom Tykwer hier zur Lektüre. Er spricht von einer „einzigartige(n) Stimme, die sich ... über Filme geradezu ,hermacht‘; die keineswegs aus Gründen analytischer Askese auf instinktive und eruptive Momente verzichtet, sondern in purer Hingabe zu ihrem Objekt es so wohlbedacht wie gierig verschlingt, es durchdringt, um zu verstehen, um zu erkennen.“ Im „klaren Denken über Film“ werde die Sehnsucht nach der „unmittelbaren Wucht filmischer Erfahrung wieder geweckt“: „Bazin macht Appetit, ach was, hungrig auf Zelluloid.“
Den Schock des Kunstwerks verlängern
Zelluloid, the good old times. Bazin selbst, darin erkennbar von der Avantgarde des filmischen Surrealismus, etwa von Luis Buñuel, wie vom ästhetischen Denken eines Walter Benjamin geprägt, hat seinen Beruf einmal so definiert: „Die Funktion des Kritikers besteht nicht darin, auf einem silbernen Tablett eine Wahrheit zu servieren, die nicht existiert, sondern im Denken und Empfinden derer, die ihn lesen, so weit wie möglich den Schock des Kunstwerks zu verlängern.“
Man sollte dieses Zitat mindestens zweimal lesen. Es enthält die Essenz einer Kritik, in der dank Sprache und Präzision noch ein Moment der möglichst unmittelbaren Wahrnehmung eines Werks nacherlebbar wird – statt nur einer daraus folgenden meinungshaften „Wahrheit“ oder Beurteilung.
Eine Serie war Bazins Nummer 1 der zehn besten Filme
So also lese, wer dafür noch Sensorien und Interesse besitzt, was Bazin einst über „Malerei und Film“, über die „Entwicklung des Western“, über „Erotik und Film“ oder „Für ein unreines Kino: Plädoyer für die Literaturverfilmung“ geschrieben hat. Über den italienischen Neorealismus, über de Sicas „Fahrraddiebe“ oder Clouzots berühmten Picasso-Film.
„Fahrraddiebe“ steht übrigens auch an 10. Stelle der nach Bazins Ansicht zehn besten Filme aller Zeiten (bei einer Umfrage aus dem Jahr 1952). Die Nummer 1 war für ihn übrigens eine Serie, Netflix vor Netflix: „Les Vampires“ vom Stummfilmklassiker Louis Feuillade, eine zehnteilige, 480-minütige Folge aus dem Jahr 1915/16 über eine Verbrecherbande, die sich selbst „Die Vampire“ nennt. Ein früher Triumph des Krimis!
Auf Platz 2 dann Charlie Chaplins Häftlingskomödie „Der Pilger“ von 1923, gefolgt von Werken Murnaus, Stroheims, Jean Renoirs, William Wylers oder Robert Bressons. Überraschend nicht dabei ist Orson Welles’ „Citizen Cane“.
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