Kultur: Davids und Goliaths
Zur Situation der deutschen Filmkritik von Jan Schulz-Ojala
Von André Bazin, dem Mitbegründer der „Cahiers du Cinéma“ und Wegbereiter der Nouvelle Vague, gibt es folgendes, das Selbstverständnis des Filmkritikers grundsätzlich erdende Gedankenbild: „Die Hauptbefriedigung, die mir dieses Metier gibt, liegt darin, dass es unnütz ist. Filmkritik ist ungefähr, wie von einer Brücke ins Wasser zu spucken (...) Das Ideal wäre, denen wirksam helfen zu können, die man liebt, und nur wenig Einfluss zu haben auf das Schicksal der anderen; aber da beides offensichtlich zusammenhängt, ziehe ich die fast völlig Ohnmacht einer zwangsläufig missbrauchbaren Macht immer noch vor.“
Diese gelassenen Sätze eines Hausheiligen mögen den deutschen Filmkritikern durchs Hirn ziehen, wenn sie sich mit zwei aktuellen – und heftigen – Stellungnahmen aus der Filmindustrie beschäftigen. Im „Spiegel“ zaust Günter Rohrbach, Nestor der deutschen Filmproduzenten, unter der Überschrift „Das Schmollen der Autisten“ die schreibenden Kollegen als eitle, stets schlechtgelaunte Truppe, die ihrer Wirkungsmacht vollends verlustig gegangen sei. Beleg: Den fulminanten Publikumserfolg von Tom Tykwers „Parfum“ hätten die Verrisse nicht verhindert, der Kritikerliebling „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach sei dagegen gefloppt. In der „Welt am Sonntag“ wiederum veröffentlicht Dani Levy, mit seinem „Führer“-Film gerade in der erfolgsentscheidenden zweiten Kinowoche, einen Brief an die Zuschauer. Tenor: Sie sollten sich von der selbstgerechten deutschen Filmkritik, die seinen auch „liebevollen“ Blick auf das System Hitler unisono abgelehnt hätte, nicht kirre machen lassen.
Ja, was sind wir denn nun: Filmpäpste, mächtiger womöglich als die schon von André Bazin gefürchteten Literatur- oder Theaterscharfrichter, oder neurotische Nullen, die bloß den Mond anbellen? Nichts von beidem. Wenn wir unsere Arbeit verantwortungsbewusst erledigen, äußern wir uns unabhängig und deutlich, über welchen Film auch immer. Wir artikulieren Meinungen, die man nicht teilen muss, die aber die Auseinandersetzung lohnen. Wir machen uns keinerlei Illusionen über eine in Zuschauerzahlen messbare Wirksamkeit unserer ästhetischkritischen Interventionen, lauern aber auf Entdeckungen mit nie nachlassender Neugier und weisen auf sie mit Freude hin. Und genau so wie die Filmindustrie auf ihre Zuschauer achtet, bemühen wir uns, unseren Lesern ein verlässliches Gegenüber zu sein.
Zur Illusionslosigkeit gehört auch: Der Kritiker verrichtet seine Sichtungsarbeit in einem kulturwirtschaftlichen Feld, auf dem wöchentlich der gnadenlose Kampf von bis zu einem Dutzend Konkurrenten neu ausgerufen wird. Wer da als Produzent und Verleih ökonomisch groß dasteht, führt in der Regel mit gigantischer PR einen Vernichtungsfeldzug gegen den nächstkleineren Rivalen – das Echo der Kritik spielt erst in letzter Linie eine Rolle. Das von Günter Rohrbach hier angeführte „Parfum“, ein Goliath des vergangenen Filmjahres, ist dabei ein Sonderfall. Dass die Kritik mit diesem Film besonders unbarmherzig und mitunter persönlich ungerecht umgegangen ist, hat mit dem Regisseur zu tun – war doch Tom Tykwer, einst größtes Individualtalent des deutschen Films, in den Augen vieler Rezensenten den Weg allen Mainstreams gegangen. Andererseits verdienen die nur 24 000 Zuschauer für einen Kino-David wie „Sehnsucht“ keinerlei Häme. Vorsichtig formuliert: Ohne jeden kritischen Beistand wäre der wunderbare, mit Laien gedrehte Liebesfilm einer unbekannten Regisseurin im anderweitigen Trara wahrscheinlich ganz untergegangen.
Nein, die Gefahr für die Filmkritik kommt nicht von den Kritikern, die sich um die Funktionsfähigkeit ihrer Sensoren selbst in der alltäglich Bilderkanonade ohnehin nicht sorgen müssen; sondern von immer populärer werdenden Widerspiegelungsstrukturen, mit denen diese traditionsreiche journalistische Form sich selbst abschafft. Es sind dies die bis zur Wahrnehmungsgrenze herunterstandardisierten Service-Stückchen, deren Autoren nur mehr als Warentester funktionieren. Und dass eines nicht fernen Tages der Raum für die ästhetisch anregende, argumentative, auch ausführliche Auseinandersetzung mit Film verschwindet, kann auch nicht im Sinne der Kritiker-Kritiker Dani Levy und Günter Rohrbach sein – und all jener, denen wir auch künftig immer mal wieder in die Suppe spucken.
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