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Ordentlich Puste. Die Altsaxofonistin Mette Rasmussen.
© P. Gannushkin

Festival "A l'Arme" im Berghain: Voll auf die Ohren!

Zwischen Eleganz und markerschütternder Lärm: Der Auftakt des Festivals „A l’Arme!“ im Berghain ist nichts für empfindliche Ohren.

Wo die Musik aufhört und der Lärm beginnt, ist, solange es nicht um die reine Schmerzschwelle geht, seit jeher umstritten. Was im mittelalterlichen Charivari ritualisiert war, bei dem Ehebrecher und andere Delinquenten pfeifend und trommelnd durch die Stadt gejagt wurden, diente Komponisten seit der Barockzeit als Metapher für dissonantes Gejaul. Bürgerlich sanktioniert, lebt der Krawall in Karnevalsumzügen fort. Zugleich hat mit dem 20. Jahrhundert eine Emanzipation des Klangs eingesetzt, die das Vokabular der Musik über das Tonale hinaus erweitert hat. Edgar Varèse kämpfte für das „Recht, mit jeder Art von Schall, mit allem, was klingt, Musik zu machen“ und wollte überhaupt nur noch von „organisiertem Ton“ sprechen.

Louis Rastigs Festival „A l'Arme!“ operiert nicht nur etymologisch an jener Grenze von Ton und Geräusch, die einst mit dem Signal zum Waffengang verbunden war. In Berlin, der europäischen Metropole der freien Improvisation, wird sie Abend für Abend neu erkundet. Das dritte „International Jazz and Soundart Meeting“ schafft es aber, dass statt der kleinen Schar, die sonst das Sowieso, das Ausland oder die Bonobo Bar im Greenhouse bevölkert, am Eröffnungsabend auf einmal mehrere hundert Menschen vor dem Berghain auf Einlass warten.

Der Trotz der Trollin

Unheilvolle Elektro-Drones kriechen bis zur Garderobe hinab, und wer über die große Stahltreppe ins Kathedralen-Hauptschiff hochsteigt, den übergießt das gigantische Soundsystem auch noch mit den Details: einem schnarrend gesampleten Kontrabass oder einem messerscharfen Streicherton. Und dann reißt die Düsternis mit einem Mal auf. Die Altsaxofonistin Mette Rasmussen betritt die Bühne und bläst sich im Alleingang den Weg frei. Es gibt hier keine Melodien, nicht einmal einen spürbaren Puls, doch einen nicht versiegenden Energiestrom, der aus mikrotonalen Verfieselungen im Altissimo-Register ins ordinärste Hupen abstürzt und Wolkenbrüche von Spalt- und Splitterklängen mit sich führt, nach denen für wenige Sekunden die Sonne eines unerwarteten Lyrismus aufgeht. Mit dem Trotz einer Trollin verbeißt sie sich in eine Folge von drei, vier Tönen, bevor sie aus der Unerlöstheit des Klangs perkussiv davonschnalzt und schnattert.

Mette Rasmussen, die im norwegischen Trondheim lebende Dänin, bewegt sich in einem Feld, das sich abstecken lässt durch das Ekstatische von Albert Ayler, die Gewalt von Peter Brötzmann, den Abstraktionsgeist von Anthony Braxton und die Klangbesessenheit von Evan Parker – Heroen eines freien Jazz, dem sie zwar keine neuen Seiten abgewinnt. Doch was sie spielt, hat Kraft, Eleganz und Intelligenz und gewinnt in der akustischen Maximalvergrößerung, die ihr zuteil wird, eine ungewöhnliche Spannung.

Viel Arbeit für die Ohrenärzte

Eine Attacke auf Leib und Leben dagegen das folgende Duo. Bassist Bill Laswell, Jahrgang 1955, ist eine Legende, seitdem er in den 80er Jahren in die Noise-Szene um John Zorn eintauchte, Herbie Hancocks „Future Shock“ mitproduzierte und sich als Remixer einen Namen machte. Kontrabasssaxofonist (und Altist) Colin Stetson, 22 Jahre jünger, ist stilistisch ein ähnlicher Tausendsassa und ein anerkannter Virtuose. Nur was sie bei der ersten Begegnung ihrer Bassinstrumente anrichten, ist ein trüber Brei, der sich vor allem als markerschütternde Ganzkörperstoßwellentherapie zu erkennen gibt. Stetson scheint mit Zirkularatmung rotorartige Sounds herzustellen, während Laswell, ein lausiger Instrumentalist, am tiefen E seines Fender Precision herumrupft und hin und wieder eine kurze Linie in den Raum stemmt.

Freudlos kalkulierte Dauerekstase zum Schluss. ZU, ein italienisch-schwedisches Trio, errichten im Stroboskopgewitter eine Metal-Klangwand. Drummer Tomas Järmyr knüppelt Baritonsax und Bass eisern vor sich her – immerhin eine Zirkusnummer. Die Ohrenärzte in den Ambulanzen müssen bis zum frühen Morgen mit Erste-Hilfe-Maßnahmen beschäftigt gewesen sein.

Bis Sa, 8.8., im Radialsystem – auch mit sehr viel differenzierteren Tönen.

Gregor Dotzauer

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