Barenboim beim Musikfest Berlin: Vier, fünf, neun Freunde sollt ihr sein
Überwältigend: Daniel Barenboim mit Yulia Deyneka und Sennu Laine im Pierre Boulez Saal.
Bei seinen Auftritten im Pierre Boulez Saal leistet sich Daniel Barenboim einen schönen Luxus: Er entscheidet erst, welche Werke er aufführen will, und sucht sich dann die passenden Mitspieler dafür. Normalerweise funktioniert es ja umgekehrt: Eine Formation wird engagiert, die dann Stücke aus ihrem Repertoire präsentiert. Weil es für kommerzielle Veranstalter viel zu teuer ist, für ein einzelnes Konzert mehrere Besetzungen aufzubieten.
Im Kammermusiksaal der privaten Barenboim-Said-Akademie aber geht das. Und so tritt am Sonntagnachmittag, bei Barenboims zweitem Beitrag zum „Musikfest Berlin“, zunächst ein Streichquartett auf, das anschließend durch den Maestro selber zum Klavierquintett erweitert wird. Nach der Pause sind dann drei weitere Pianisten dran, zusammen mit zwei Harfenistinnen und einem Harfenisten sowie einem Trio von Schlagwerkern.
Abgeschaut hat sich Daniel Barenboim das Prinzip der instrumentalen Vielfalt, das an die Salonkultur des 18. und 19. Jahrhunderts erinnert, bei seiner Frau Elena Bashkirova: Die praktiziert es seit Langem bei ihren beiden Festivals, dem „Jerusalem International Chamber Music Festival“ sowie den „Intonations“, die seit 2012 im Jüdischen Museum stattfinden. Vertraute Künstlerfreunde finden sich dafür jeweils zusammen. Und so ist es auch am Sonntag im Boulez Saal, wo mit Yulia Deyneka und Sennu Laine Spitzenmusikerinnen aus der Staatskapelle zusammen mit dem Barenboim-Said-Akademisten Yamen Saadi und Michael Barenboim die vier Pulte bei Anton Weberns Streichquartett Opus 28 besetzen.
Erhebend wie die Malerei eines Jackson Pollock
Sie rücken die „Grazie und Schwerelosigkeit der melodischen Linien“ in den Mittelpunkt, die Pierre Boulez an Webern so schätzte, machen klar, dass es in der Zwölftontechnik ebenso um ein intimes Miteinander der Beteiligten geht wie bei Beethoven, nur eben befreit von traditionelle Hierarchien und Tonsatzregeln.
Schmerzvoll schön und darum zutiefst berührend gelingt anschließend in Schumanns Es-Dur-Klavierquintett der langsame Satz. Denn die fünf Instrumentalisten lassen hier alle virtuose Kunstfertigkeit hinter sich, stellen kein Leid aus, sondern durchleben wirklich mitfühlend alle Steigerungsstufen des Schmerzes, von der stillen Trauer bis hin zur wilden Verzweiflung. Ein musikalischer Herzmoment, der lange nachhallt.
Mit stupender Selbstverständlichkeit entfaltet sich unter Barenboims Händen schließlich Pierre Boulez’ „Sur Incises“, dieser höllisch schwere, in seiner magischen Mischung aus Harfen-, Klavier-, Marimba-, Steeldrum- und Glockenklang einzigartige Vierzigminüter, den er schon bei der Eröffnung des Boulez Saals im März 2017 dirigiert hat. Noch freier, noch brillanter ist jetzt das Zusammenspiel der neun Mitwirkenden, ein energetischer Strom, ein purer Flow, in dem sich alles nach einer geheimen Logik absolut zwingend entwickelt, in dem sich Abstraktion und Sinnlichkeit begegnen, dichte Textur und luftige Leichtigkeit. Naturkräfte werden hier freigesetzt, überwältigend, ästhetisch erhebend wie in der Malerei eines Jackson Pollock.