Kraftwerk, Düsseldorf und das Buch "Electri_City": Verwende deinen Synthie
Kraftwerk, Neu!, La Düsseldorf, DAF und viele andere: Rüdiger Eschs Buchdokumentation über die elektronische Musik aus Düsseldorf von 1970 bis 1986.
Andy McCluskey weiß heute noch genau, dass er am 11. September 1975 erstmals ein Konzert von Kraftwerk gesehen hat, im Empire Theatre in Liverpool: „Ich saß in Reihe Q und hatte Platz 36. Das ist in meiner Erinnerung fest eingebrannt, denn es war der erste Tag vom Rest meines Lebens.“ Man muss das zweimal lesen, so umständlich-pathetisch klingen McCluskeys Worte über seine zweite Geburt als Musiker. McCluskey, 1959 geboren, gründete 1978 die New-Wave- und Synthie-Band Orchestral Manoeuvres in the Dark, kurz OMD, und hatte in den achtziger Jahren Hits wie „Enola Gay“, oder „Maid of Orleans“. OMD existieren immer noch. Vor allem jedoch gibt McCluskey, so erwähnt es Rüdiger Esch im Abspann seines Buches über elektronische Musik aus Düsseldorf, „am Tag mehr Interviews zu Einfluss und Werk von Kraftwerk als Ralf Hütter in einem Jahr“.
Esch, der selbst Musiker der Industrial-Band Krupps ist, hat sein Buch nach einem frühen OMD-Song benannt, „Electricity“, dieses Wort aber effektvoll zerlegt in „Electri_City“. Der eine Teil steht für die Stadt, die von 1970 bis 1986 eine der einflussreichsten, innovativsten Musikszenen des Pop beherbergte: Düsseldorf. Und der andere für die Musik, die hier bevorzugt gespielt wurde, nämlich elektronische. Es geht hier um eine Form von Popmusik, die das Scharnier von Hippie-Rock und Punk einerseits, von Post-Punk, New Wave und später Techno andererseits darstellt; die aber auch, so wirkt das im Nachhinein, wie in einem fernen Pop-Paralleluniversum ihre Blütezeit hatte. „Electri_City“ besteht aus Gesprächen Eschs mit wichtigen Musikern und Szene-Protagonisten jener Zeit, ergänzt durch ältere Aussagen, da mancher Düsseldorfer Held wie zum Beispiel Klaus Dinger von den Bands La Düsseldorf und Neu! schon gestorben ist.
Man kennt diese Art von oral history über diverse Popszenen inzwischen zur Genüge, angefangen mit Jürgen Teipels Punk-Dokumentation „Verschwende Deine Jugend“. Und doch sind die Verdienste gerade dieses Buches gar nicht hoch genug einzuschätzen. Denn es erzählt zum einen von einer Zeit, in der in der Popmusik fast Jahr für Jahr etwas Neues passierte, sich die Popmusik laufend veränderte. Zum anderen rückt es eine Szene ins Bewusstsein, die zwar höchst einflussreich war, aber hierzulande nur unzureichend bekannt ist, sieht man einmal von Kraftwerk ab.
Bowie war nicht so amused: Bei "Wetten dass..." 1997 kannte kein Mensch die Gruppe Neu!
Unter dem Label „Krautrock“ firmieren Teile dieser viel mehr in England und den USA wahrgenommenen und später dort auch in vielen Büchern porträtierten und analysierten Szene gern; obgleich der Rock von Krautrock gerade in Düsseldorf ein instrumenteller, sphärischer war und bald der puren Elektronik wich.
Bezeichnend ist eine Anekdote, die Ralf Dörper erzählt, früher Musiker von Propaganda, heute bei den Krupps. Da saß also David Bowie 1997 auf dem „Wetten, dass..?“-Sofa und sollte Lieblingsbands nennen. Und Bowie sagte, „er habe in seiner Berlin-Zeit all die tolle Musik aus Deutschland von Bands wie Kraftwerk, Neu! und Harmonia gehört, und fragte dann ins Publikum, ob jemand außer ihm die Gruppe Neu! kenne. Nur ein Einziger hob bescheiden und unsicher die Hand (...). Das war für Bowie vollkommen unverständlich, so, als würden wir nach England reisen und feststellen, dass niemand dort den Namen David Bowie kennt.“ Bands wie Neu!, La Düsseldorf oder Cluster, ein Laden wie der Ratinger Hof, Musiker wie Klaus Dinger, Michael Rother, Wolfgang Riechmann, Peter Hein, der Großproduzent Conny Plank – sie alle kommen hier länglich vor oder zu Wort, einander durchaus widersprechend.
Kraftwerks (Werk-)Biografie schlängelt sich wie ein roter Faden durch dieses Buch – und doch bilden Kraftwerk auch ein leeres Zentrum, um das Esch und die anderen kreisen. Denn wie man es von ihnen kennt, haben sich Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben Gesprächen verweigert; auch von Karl Bartos gibt es keine Auskunft. Nur Schlagzeuger Wolfgang Flür, der Vierte im Bunde der großen, produktiven Kraftwerk-Ära von 1973 bis 1987, erzählt Geschichten. Zum Beispiel von der ersten US-Tour 1974, als er und Bartos in New York City in einem anderen, viel billigeren, weniger komfortablen Hotel wohnten als die Bürgersöhne Hütter und Schneider: „Alles also schön sozial separiert“. Als „Beachs Boys from Germany“ wurden Kraftwerk damals in den USA gefeiert, weil die Amerikaner statt „fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ „fun, fun, fun auf der Autobahn“ verstanden.
Außer den deutschen Musikern hat Esch zahlreiche Briten interviewt, neben Andy McCluskey und seinem Bandkollegen Paul Humphreys zum Beispiel Mitglieder von Bands wie Human League oder Heaven 17 oder den Mute-Labelbetreiber und Depeche-Mode-Entdecker Daniel Miller. Was auch insofern stimmig ist, als die Kraftwerk oder Neu! nachfolgenden Düsseldorfer Bands wie DAF oder Propaganda, um die es im zweiten Teil von „Electri_City“ vor allem geht, erst den Umweg über England gehen mussten, bevor man in der Bundesrepublik auf sie aufmerksam wurde.
Warum jedoch sorgte ausgerechnet Düsseldorf für Exportschlager dieser Güte? Der Schriftsteller Bernd Cailloux spricht vom „rheinischen Laisser-Faire“, einer „grundsätzlichen Liberalität, die vielleicht bis zu Heine zurückgeht“. Sein Kollege Peter Glaser, der aus Graz stammt, glaubt, dass es „die Kombination aus Übersichtlichkeit und metropolitanem Flair“ war, „die anscheinend vieles möglich machte“. Und natürlich gab es da die Kunstakademie und insbesondere Joseph Beuys, der bei seinen Performances viel Musik einsetzte; eine insgesamt kreative Mischung aus Hippie-, Punk- und Kunstszene.
Allerdings wirkt es ein bisschen arg zurechtgezimmert, wenn Esch auch noch die Werberszene zu Wort kommen lässt. Pop und Kommerz schön und gut, aber nur weil in einer der Düsseldorfer Agenturen Platten von Heaven 17 und Joy Divsion liefen, sind die Werber noch keine Szenenverantwortlichen. Einer wie Herbert Grönemeyer passt da schon besser. Dessen zweites Album „Zwo“ von 1980 wurde in Conny Planks Studio aufgenommen. Vor allem aber kümmert sich Grönemeyer mit seinem Label Grönland um die Wiederöffentlichung von Neu!-, Harmonia- oder Klaus-Dinger-Alben (einen „Electri_City“-Soundtrack gibt es dort übrigens auch). Zusammen mit den acht Kraftwerk-Shows im Januar in der Neuen Nationalgalerie in Berlin schließt sich so ein Kreis.
Rüdiger Esch: Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf 1970–1986. Suhrkamp, Berlin 2014, 464 S., 14,99 €.