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Die Fakten der Erinnerung sprechen lassen. Swetlana Alexijewitsch.
© Elke Wetzig/Wikipedia

Swetlana Alexijewitschs Zeugenliteratur: Verlorenes Paradies

Swetlana Alexijewitsch, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2013, hat die Stimmen derer gesammelt, die als Kinder die Okkupation Weißrusslands durch die Wehrmacht erlebten. "Die letzten Zeugen" ist ein bewegendes literarisches Dokument.

Als der Krieg aus war, lag irgendwann ein fremder Mann zu Hause auf dem Sofa und schlief. Ljonja Chossenewitsch war damals zehn Jahre alt. Er erinnert sich noch gut, wie er damals dem schlafenden Fremden die Papiere aus der Tasche zog und sie las. „Ich begriff – das ist mein Vater. Er schlief, und ich saß daneben, bis er aufwachte. Mir zitterten die ganze Zeit die Knie.“

Anders als Ljonjas Vater kehrten Millionen sowjetischer Väter, die gegen die Wehrmacht gekämpft hatten, aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurück. Schätzungen zu den Zahlen der Kriegstoten der UdSSR liegen bei mindestens 20 und bei bis zu 40 Millionen; Gefallene, Verhungerte, Erfrorene, Verschollene, Ermordete. Zu den überlebenden Zeugen der Epoche gehörten Millionen Kinder.

Swetlana Alexijewitsch, 1948 geboren, hat die Stimmen derer gesammelt, die als Kinder die Okkupation Weißrusslands durch die Wehrmacht erlebt haben. Viele sprachen erstmals über ihre Kriegskindheit. Veröffentlicht wurden die Berichte 2008 in Moskau als eine Kette von etwa hundert Vignetten. Eben ist das Buch der Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels von 2013 auf Deutsch erschienen: „Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg“ (aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Berlin, 2014, 304 S., 22,90 €).

„Alle Schulen wurden zu Lazaretten“, erinnert sich Wolodja Tschistokletow, der als Junge unter den Trümmern eines Hauses ein Buch über die Tierwelt fand und es verschlang; der durch die Schocks seiner Erlebnisse eine Weile lang die Sprache verlor; und der dann erlebte, wie im Lazarett, wo seine Mutter arbeitete, ein Orchester der Verwundeten entstand. Er hat sein Leben lang gestottert, aber er wurde Musiker. Lida Poroshelskaja, bei Kriegsausbruch acht, verlor als Mädchen beide Eltern, beharrt aber: „Wir fühlten uns nicht als Waisen“, denn „alle zogen uns gemeinsam groß.“

Sie haben „Russen und Deutsche“ gespielt, wie Deutschlands Nachkriegskinder „Cowboy und Indianer“. Sie erinnern sich an den Lärm der Wehrmachtsbomber über ihren Dörfern und Städten und an das Flüchten aus dem Elternhaus, in dem deutsche Soldaten Quartier genommen hatten. Sie wissen noch, wie die Großmütter am Ofen strickten, während sie auf Väter, Mütter oder Geschwister warteten, auf Essen, Obdach, Nachrichten. Wie die Wehrmachtssoldaten den Kolchosgarten bei Minsk fackelten. Oder wie das Haar der Mutter über Nacht weiß wurde. Aber auch Faszination und Abenteuer klingen an, etwa bei Sina Schimanskaja, die Kriegsromane las und eine Heldin sein wollte.

Im Sommer 1941 saßen sie am Küchentisch, die Kinder, sie waren auf dem Feld oder wollten gerade ins Kino, als sie zum ersten Mal Panzer sahen und Deutsche in Uniform. Von Häusern, die einstürzen oder abbrennen, erzählen viele der ehemaligen Kriegskinder. Das ausgelöschte Haus scheint die mächtigste Metapher ihrer symbolischen Welt, eine für Unbehaustheit im Wortsinn, für den Verlust von Geborgenheit. Zum Trost dienten ihnen oft ihr kindlicher Patriotismus und Glaube an die Rote Armee: „Unsere!“ sagen sie dazu oft. Überlebende wie die, die hier erzählen, oft vaterlos und in Armut groß geworden, sind auch die Eltern und Großeltern derer, die heute Putins neue Großmachtfantasien mittragen. Auch darum kann diese Sammlung beitragen zum Verstehen und Analysieren der Gegenwart. Vor allem aber lässt sie Auslöser und Ursachen von kumulativer und transgenerationeller Traumatisierung im Europa des 20. Jahrhunderts aufleuchten.

Da die Passagen oft kurz sind, manche nur zwei, drei Seiten lang, eignen sie sich gut als Schulstoff, Empathie vermitteln sie allemal. Leider aber fehlt jeder Hinweis darauf, wie, wo, wann und nach welchen Kriterien Alexijewitsch die Berichte der Zeitzeugen gesammelt hat. Auch fehlt eine Erläuterung zur – offensichtlich erfolgten – Literarisierung der Erzählungen. Vermutlich soll dieser Kunstgriff das Material umso reiner und eindrucksvoller wirken lassen. Doch er stört, denn er überhöht die erschütternden Narrative ins nahezu Mythische, teils enthistorisiert und entpolitisiert er sie. Das Erzählte hätte solch forcierte Abstinenz gar nicht nötig. Es ist stark genug.

Caroline Fetscher

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