Roberto Simanowskis „Stumme Medien“: Verlernen wir durch die Digitalisierung das kritische Denken?
Bedenken first: Der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski schreibt in „Stumme Medien“ über die Gefahren der Digitalisierung.
Stumme Medien“, das klingt erst einmal verwunderlich – schließlich piepen und surren überall die Smartphones, poppen auf allen elektronischen Geräten Werbebanner auf, buhlen neue Nachrichten um unsere Aufmerksamkeit. Will man den Titel des neuen Buches des Literatur- und Medienwissenschaftlers Roberto Simanowski verstehen, hilft es womöglich, sich eine prominente Stimme aus dem Lager der Tech-Utopisten in Erinnerung zu rufen, die des Chefingenieurs von Google, Ray Kurzweil. Der prophezeite bereits zur Jahrtausendwende, dass es nicht mehr lange dauere, bis die Computer verschwinden, maximal bis zum Jahr 2010.
Damit meinte er allerdings, dass diese so selbstverständlich in den Alltag integriert sein würden, dass sie uns quasi unsichtbar erscheinen. Für den Google-Entwickler Kurzweil ist dies die Vision einer perfekten Zukunft – für den Medienwissenschaftler Simanowski jedoch ein Anlass zu ernsthafter Sorge. „Das Verschwinden in der Transparenz (…) gleicht dem Fenster, durch das wir schauen, ohne es selbst wahrzunehmen“, warnt Simanowski und bezieht sich damit nicht zuletzt auf Marshall McLuhans wegweisenden Essay von 1964 „Das Medium ist die Botschaft“ . Noch früher, im Jahr 1948, entwickelte der Kommunikationstheoretiker Harold Lasswell die berühmten „fünf W-Fragen: Wer sagt was über welchen Kanal zu wem mit welchen Folgen?“
In Zeiten von Fake News und Hate Speech, so Simanowski, wäre es wichtiger denn je, sich diese Fragen zu stellen – und zwar bei jedem Posting, jeder Nachricht, jedem Tweet. Tatsächlich jedoch geschieht das Gegenteil. Trotz der omnipräsenten Forderung nach „Medienkompetenz“ werde die Technik als sozialer Akteur zunehmend ausgeblendet.
Die Geisteswissenschaften bleiben auf der Strecke
So wird an den Schulen zwar vermittelt, wie man Medien effektiv und reibungslos einsetzt; als Gegenstand kritischer Betrachtung hingegen kommen sie kaum noch vor. An den Universitäten gewinnen die Digital Humanities, denen Simanowski eine „positivistische, mechanistische und reduktive“ Herangehensweise unterstellt, an Einfluss und Ansehen, während die Geisteswissenschaften als „kritisches Gewissen der Gesellschaft“ auf der Strecke bleiben.
Wer Simanowskis Vorgängerwerke „Data Love“ und „Facebook-Gesellschaft“ gelesen hat, kennt seine Thesen ganz gut. Im Zuge der Rundum-Digitalisierung würden wir nicht nur unsere Selbstbestimmung und unser kritisches Reflexionsvermögen einbüßen, sondern überdies die Fähigkeit, das eigene Leben zu erzählen und zu erinnern. Multitasking, kurze Aufmerksamkeitsspannen und Sofortbelohnung lassen keine Zeit mehr für zweifelndes Abwägen, für „ein Denken, das sich selbst misstraut“. Ein solches Denken aber, das die eigene Perspektive mitreflektiert und andere Positionen nicht per se diskreditiert, bildet für Simanowski die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft – und nicht etwa die naive Beseitigung von Gatekeepern.
Anstatt wahlloses Netz-Bashing zu betreiben, stellt Simanowski in „Stumme Medien“ seine Überlegungen in den Kontext ihrer soziokulturellen Entwicklung: In diesem Fall die Geschichte des Bildungs-Begriffs, angefangen bei Wilhelm von Humboldts neuhumanistischem Konzept der Vervollkommnung des Menschen über Adornos Kritik einer „punktuellen, unverbundenen, auswechselbaren und ephemeren Informiertheit“, in der die Logik digitaler Suchmaschinen und Facebook-Feeds bereits anklingt, bis hin zu Pink Floyds antiautoritärem Protestsong „Another brick in the wall“.
Warum formiert sich kein Widerstand?
Während für Humboldt und Adorno noch die Erziehung zum selbstständigen Denken im Mittelpunkt gestanden hat, konstatiert Simanowski heute eine Tendenz zur „verkürzten Zweckdienlichkeit“. Oder, polemischer, zugespitzter: „Der Landmann und das Dorfmädchen sind – in neuer Bezeichnung und Berufsbeschreibung – das Leitbild aktueller Bildungspolitik". Diese Kritik weist über das vorherrschende Verständnis von „Medienkompetenz“ weit hinaus, zeigt sich jedoch besonders deutlich im Trend hin zur bedarfsgerechten Darreichung von Informationshäppchen, wie sie beispielsweise am E-Learning gepriesen wird. Als „maßgeschneiderte Erfüllung von Kundenwünschen“ bezeichnet Robert Simanowski diese Art von Bildung, die „evaluiertes Humankapital“ anstelle mündiger Bürger hervorbringt.
Warum sich gegen diese „stille Revolution“ kaum Widerstand formiert, ist vielleicht die spannendste Frage, die „Stumme Medien“ stellt. Datenskandale wie jüngst um Cambridge Analytica reichen offenbar nicht aus, um zu weitreichenden Veränderungen zu führen, weder im Nutzerverhalten noch in der Bildungspolitik. Unmerklich hat die „Ethik des Machens“ großer Tech-Konzerne auch in der Politik das Zepter übernommen, was sich besonders deutlich im FDP-Slogan „Digital first. Bedenken second.“ zeigt. Forderungen nach Langzeitfolgenabschätzung werden derweil ins Kleingedruckte verbannt.
Verbündete sieht Roberto Simanowski in jenen Silicon-Valley-Insidern, die sich mittlerweile öffentlich von ihren eigenen Erfindungen distanzieren – wie etwa der Friedenspreisträger Jaron Lanier, dessen neues Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst" heißt. Oder die Entwickler des Like-Buttons, die nun vehement vor dem Suchtpotential und den langfristigen negativen Auswirkungen der Totaldigitalisierung warnen. Als Verschwörungstheorie technophober Kulturpessimisten, so Simanowskis Hoffnung, werde man kritische Stimmen wie diese nicht mehr abtun können.
Roberto Simanowski: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 304 Seiten, 24 €.
Anja Kümmel