Nobelpreis für Kazuo Ishiguro: Vergessen, Verdrängen, Erinnern
Der englische Schriftsteller Kazuo Ishiguro hat die seltene Gabe, die Dinge mit stiller Präzision von der Seite zu betrachten. Eine Würdigung des Literaturnobelpreisträgers 2017.
Ob die makellose Eleganz seines Englisch damit zu tun hat, dass es ihm nicht als Muttersprache gegeben war und er es deshalb mit besonderem Ehrgeiz eroberte, ist ein bloßer Verdacht. Ohne jeden Zweifel aber erlaubt ihm seine japanische Herkunft ein Stück Distanz zu der Inselkultur. Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren und 1960 mit seiner Familie nach England gekommen, wo er als Sohn eines Ozeanografen südlich von London in Guildford aufwuchs, ist ein gar nicht untypischer Hybrid dieser Zeit. Ein Schriftsteller, der die Anteile seiner Prägungen gar nicht mehr auseinanderdividieren will. Für sich ist er längst ein Ganzes mit dem Talent, die Dinge, die ihn beschäftigen, von der Seite anzusehen.
Das gilt für Japan, das er erst 1989 wieder besuchte, wie für England. Es sind Welten, die es zweifellos gibt, die sich in seinen Fiktionen aber nur bedingt voneinander trennen lassen. Seine beiden ersten Romane „Damals in Nagasaki“ (A Pale View of Hills, 1982) und „Der Maler der fließenden Welt“ (An Artist of the Floating World, 1986) begeben sich in ein weltkriegszerrüttetes Japan, das nicht mit sich ins Reine kommt. Geplagt vom Wunsch, vergessen zu können, und der Not, sich erinnern zu müssen, erzählen sie von Schuldjongleuren und Verdrängungskünstlern. Sie teilen, wenn nicht die Geschichte, so doch die Mechanismen, mit der auch die Deutschen die Vergangenheit zugleich angingen und sich vom Leibe zu halten versuchten. Ihre historische Stimmigkeit verdanken diese Romane allein Recherchen, ihre moralische Glaubwürdigkeit aber einer Einbildungskraft, die auch in der konkretesten Szenerie das Universelle sucht.
Von daher konnte Ishiguro auch glaubhaft versichern, dass sein 1989 mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman „Was vom Tage übrigblieb“ (The Remains of the Day) mit einem Butler als Hauptfigur zwar das Englischste vom Englischen bemüht, aber auf das Porträt eines Mitläufers und seiner Rechtfertigungen aus war. „Es wäre vollkommen unlogisch, würde ich, was mich selbst betrifft, in irgendeiner Weise Bedauern oder Scham empfinden“, erklärt dieser Stevens. Im Jahr 1956 hält er Rückschau auf seine Anstellung bei einem Lord, der sein Landhaus in den dreißiger Jahren nutzte, um deutsche und englische Politiker als faschistische Verschwörer zusammenzubringen. Besessen von einer trügerischen Würde, versteckt sich Stevens hinter einer fühllosen Maske und beugt sich jedem autoritären Ansinnen. Anthony Hopkins hat dieser Figur in James Ivorys Verfilmung ein einprägsames Gesicht gegeben.
Schon da hätte man an Ishiguros Romanen das rühmen können, wofür ihm nun zurecht der Literaturnobelpreis verliehen wird. Ishiguro, so die Jury-Sprecherin Sara Danius, werde für ein Werk mit starker emotionaler Wirkung ausgezeichnet, das die „Abgründe unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt“ bloßlege. Mit dem Butler-Roman begann es sich allerdings erst richtig zu verzweigen. Kein Roman glich dem vorhergehenden. Dennoch ist selbst das Fantasyepos „Der begrabene Riese“ (The Buried Giant), mit dem er 2015 zunächst auf Unverständnis stieß, von weitaus mehr motivischer Kontinuität getragen, als es sein Bestreben, bewährten Formeln auszuweichen, vielleicht nahelegt.
„Der begrabene Riese“ spielt nach dem Abzug der Römer von den britischen Inseln im sechsten Jahrhundert. Nur wenig Verlässliches ist aus dieser Zeit überliefert, weshalb Ishiguro sich jede Freiheit nimmt, die Geschichte des alten Ehepaars Axl und Beatrice, das sich in einem zerstörten Land auf die verzweifelte Suche nach seinem Sohn macht, mit Geistern, Dämonen und, ja, einem Drachen auszuspinnen. Dabei hatte er anfangs gar nicht die Absicht, ins Mythische abzutauchen. Er wollte verstehen, wie unter scheinbar friedlich vereinten Völkern auf einmal Feindschaften aufbrechen, die von finsteren kollektiven Erinnerungen genährt werden. Er ging aus von der jüngsten Vergangenheit: dem Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda, dem Nordirlandkonflikt und den Balkankriegen. Aber die journalistische Versuchung, die er in diesem Stoff spürte, widerstrebte ihm so sehr, dass er lieber auf die nach vielen Richtungen ausdeutbare Fiktion setzte.
Überraschend war nach „Was vom Tage übrigblieb“ schon die 700-seitige Künstlerparabel „Die Ungetrösteten“ (The Unconsoled, 1995). Darin verirrt sich Ryder, ein berühmter Pianist, in eine ominöse osteuropäische Stadt. Nur die stille Präzision von Ishiguros Sprache und die entschiedene Langsamkeit des Erzählens vermochten seine Leser auch hier auf Anhieb zu erkennen – neben der unbekannten Schuld, der sein Held nachjagt, den man durchaus als Alter Ego des Autors lesen kann.
Selbstsucher, mit Blindheit geschlagen
Sonst jedoch darf man Ishiguros Werk, das auch eine Vielzahl von Erzählungen umfasst, nicht autobiografisch lesen. Es gibt höchstens ein persönliches Phantasma, das er immer wieder aufgreift. In „Als wir Waisen waren“ (When We Were Orphans, 2000) war dies die Suche eines englischen Detektivs nach seinen einst in Schanghai verschwundenen Eltern. Bei seinen Nachforschungen sieht er sich schließlich mit sich selbst konfrontiert und bleibt doch blind für sich – ähnlich wie Butler Stevens, dem man durch seine eigenen Legitimationsgespinste in die Seele schauen muss. Das folgende Meisterstück heißt „Alles, was wir geben mussten“ (Never Let Me Go, 2005) und ist die Geschichte von Ruth, Tommy und Kathy, drei Internatsschülern, die entdecken müssen, dass sie Klone sind: Ersatzteillieferanten für eine Menschenwelt, zu der ihnen sonst der Zugang verwehrt bleibt.
Unter den Autoren, die Ishiguro bewundert, bilden Anton Tschechow und Fjodor M. Dostojewski ein auf den ersten Blick widersprüchliches Paar und ergänzen sich doch perfekt. Während Tschechow für jene erzählerische Leichtigkeit steht, die auch Ishiguro zueigen ist, steht Dostojewski für die Seelenzermarterung, die hinter jeder Melancholie den metaphysischen Abgrund erkennt.
Vor zwei Jahren verkaufte Kazuo Ishiguro sein Archiv übrigens an das Harry Ransom Center der Universität Texas, dorthin, wo unter anderem auch die Manuskripte von David Foster Wallace und J.M. Coetzee, dem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger, aufbewahrt werden. Unter Ishiguros Materialien soll auch die Aufnahme eines Liedes sein, mit dem er einmal einen Plattenvertrag zu ergattern versuchte, außerdem ein unveröffentlichter Roman namens „To Remember a Summer By“. Man kann darauf wetten, dass das Buch seinen einsamen Schlummer mit der Stockholmer Entscheidung ausgeträumt hat.
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