Filmstart: Ein Organ namens Seele
Der Science-Fiction-Film "Alles, was wir geben mussten" nach dem Roman von Kazuo Ishiguro: Das, wovor wir uns fürchten, ist längst geschehen.
Es ist nicht so, dass auf den ersten Seiten von Kazuo Ishiguros Roman „Alles, was wir geben mussten“ nicht manches Deutliche gesagt wäre über die absonderlichen Verhältnisse, die die Welt der 31-jährigen Kathy H. bestimmt haben und bestimmen. Nur scheint sich die sorgfältig protokollierende Icherzählerin an ein Auditorium zu wenden, dem die ungewöhnlichen Alltagsvokabeln, die sie zur Beschreibung ihrer Lebenswirklichkeit verwendet, vollkommen geläufig sind. Also hört der Uneingeweihte, vom scheinbar sanften Singsang der Erinnerungen nur leicht verstört, erst einmal darüber hinweg, um alsdann Schrittchen für Schrittchen, von Kathy auf das Behutsamste geführt, in das böse Gespinst dieses Romans einzudringen. Bis es ihn ganz umfängt. Und er es nie wieder vergisst.
Jugenderinnerungen sind es, die Kathy gemächlich ausbreitet, Bilder, die einem zunächst aus der Literatur und aus Filmen beruhigend bekannt vorkommen mögen: Bilder aus einem Internat in der späten Mitte des 20. Jahrhunderts, als strenge Aufseherinnen gleichermaßen auf die körperliche Ertüchtigung und seelische Erbauung ihrer Schutzbefohlenen achteten – und darauf, dass die Zöglinge den Park rund ums alte Herrenhaus tunlichst nie verließen. Ein Waisen-Internat offenbar ist dieses Hailsham nicht fern der englischen Küste, und hier wachsen, abgeschirmt von irgendeiner Welt da draußen, die „Kollegiaten“ auf. Es sind eigentlich ganz normale, auch sensible, kreative Kinder, die nach erfolgreich absolvierter Schulzeit in die „Cottages“ umziehen, wo sie einander auch sexuell näherkommen mögen. In diesen Jahren werden Kathys beste Freundin Ruth und ihr bester Freund Tommy zum Paar, während Kathy in dieser Hinsicht anderweitige, nicht besonders erinnerungswürdige Erfahrungen macht. Und bald ist es Zeit für das Freundestrio, zumindest zeitweise jeweils eigener Wege zu gehen.
Nach einem knappen Drittel des Romans enthüllt sich das brutale Geheimnis dieser Welt. Das Grausamste daran: Die Betroffenen stellen das Urteil, das es enthält, nie infrage. Im minutiösen Beharren auf einer nahezu übermenschlichen Duldsamkeit – ein Leitmotiv vieler Romanfiguren Kazuo Ishiguros – steckt der so großartige wie unerträgliche Zauber von „Alles, was wir geben mussten“ (Never Let Me Go, 2005). Exakt diese Schicksalsergebenheit entfesselt ein Optimum an Empathie. Weit über 100 000 Leser hat dieser neben dem bereits verfilmten „Was vom Tage übrig blieb“ erfolgreichste Roman Ishiguros hierzulande bereits gefunden – ein Buch, das man nur dann angemessen weiterempfiehlt, wenn man das ihm innewohnende Geheimnis nicht verrät.
Wie verfilmt man ein Werk, dessen Ganzes viel größer als die Summe seiner Mikrokosmen ist und dessen narratives Prinzip im langsamen Herantasten an ein Rätsel besteht? Wie kann das Kino, das sich zwangsläufig auf Bilder festlegt, einer Erfindung gerecht werden, die die Imagination ganz mit dem Ungefähren ihrer Begriffe verführt? Ja, ist dieser Roman überhaupt verfilmbar? Mark Romanek, der 2002 „One Hour Photo“ drehte und vor allem mit Musikvideos und Werbeclips bekannt wurde, hat sich, nach einem Drehbuch von Alex Garland und beraten von Kazuo Ishiguro höchstselbst, ein Äußerstes an Mühe gegeben. Und doch: So gerecht er vielem wird, dem Grunddilemma entkommt er nicht.
Schon die erste Szene, die den Voice-over Kathys illustriert und mit der der Regisseur zumindest formal die der Rückblende vorgeschaltete Exposition des Romans übernimmt, ist von krasser Überdeutlichkeit. Sie soll an dieser Stelle bewusst nicht beschrieben sein – aber ihre schockartige Wucht bewirkt, dass alles Folgende in den Ruch bloßer Belegbebilderung gerät. Wer sich den Lektüre-Zauber bewahren will, der einem Filmerlebnis auch einmal nachfolgen kann, komme daher besser ein, zwei Minuten zu spät in den Kinosaal. Oder noch besser: Erst lesen, dann sehen. Und: durchaus sehen. Denn Romaneks skrupulöse Literaturverfilmung hat eigene Stärken, die neben der Vorlage bestehen.
Zum Beispiel Carey Mulligan: Die zarte und wandlungsfähige, junge und schon so lebensklug wirkende Schauspielerin, die vor zwei Jahren mit ihrer Rolle in Lone Scherfigs „An Education“ schlagartig berühmt wurde, ist eine Kathy, wie man sie nicht besser hätte für die Leinwand erfinden können. Sie ist die gute Kameradin, die der Roman von ihr verlangt, und sie verkörpert beiläufig alle Weisheit und allen stillen Schmerz, die Kathy von ihren Freunden unterscheiden – und selbst die verfrühte Instrumentalisierung als love interest, wie sie offenbar das Kino verlangt, schultert eine Schauspielerin wie Carey Mulligan in aller Bescheidenheit. Auch Andrew Garfield als impulsiver, an seinem Schicksal erst spät zerbrechender Tommy überzeugt; und dass die längst zum eleganten Kostümfilmstar entwachsene Keira Knightley die dauernervös spätpubertierende Ruth geben muss, nach kurzer Eingewöhnung gelingt auch das.
So geht dieses Abenteuer, einen der großen Albträume aus literarischer Fantasie zu verfilmen, voran – mit starker Besetzung und mitunter arg pompöser Musik, mit einem bezwingenden Setting und zum Ende hin arg viel Tränen, und mit ein paar hübschen, der Welt des Kazuo Ishiguro hinzugefügten dramaturgischen Ideen. Das, wovor wir uns fürchten, ist längst geschehen – davon vor allem erzählt dieser gruselige Science-Fiction- Film in listigem Retro-Gewand. Und davon, dass menschliches Leben nichts anderes bedeutet, als dass ein unverlierbares Organ namens Seele zu vibrieren beginnt.
Ab Donnerstag in den Kinos: Cinemaxx Potsdamer Platz, Filmkunst 66; OmU: fsk am Oranienplatz, Odeon.
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