Chile: Die trotzige Nation
„Viva Chile“ ruft der Präsident, rufen die geretteten Bergarbeiter, ruft das ganze Land. Geradezu überbordend ist der Stolz auf ihren Staat. Daran ändern selbst die dunklen Jahre der Pinochet-Diktatur nur wenig.
Chile sei heute nicht mehr das gleiche Land wie noch vor zwei Monaten, hat Chiles Staatspräsident Sebastian Pinera unmittelbar nach der Bergung des letzten der 33 verschütteten Minenarbeiter gesagt. Es sei heute geeinter und stärker und werde in der Welt mehr respektiert und geschätzt, so Pinera. Und er fügte an: „Viva Chile!“ Abgesehen davon, dass Pinera entschlossen ist, mit dem erfolgreichen Ausgang der spektakulären Minenarbeiterbergung sein Ansehen und das seiner Regierung zu mehren, fragt man sich: Was war Chile eigentlich für ein Land vor dem Minenunglück? Und: Ist das Resultat dieser neuen Stärke nicht vor allem ein überbordender Nationalismus?
Es leben eben nicht nur die geretteten 33 Bergarbeiter, sondern es lebe Chile, so will es der Präsident. Und so wollten es immer wieder die Geretteten und ihre Angehörigen mit ihren langgezogenen „Chi-Chi-Chi-le-le-le“-Rufen. Mögen diese in deutschen Ohren seltsam klingen, so sind sie in Chile doch nur Ausdruck eines trotz der 16 Jahre währenden Pinochet-Diktatur ungebrochenen Nationalbewusstseins, das unter anderem Chiles erfolgreichste, in den USA lebende Schriftstellerin Isabel Allende nicht zuletzt auf die Topografie des langgezogenen, zwischen Anden und Pazifik eingezwängten Landes zurückführt: „Chile wird vom Scheitel bis zur Sohle zusammengehalten von seinen Bewohnern, die sich trotzig als Nation fühlen.“ Die abgeschiedene Lage, schreibt Allende in ihrem autobiografischen Buch „Mein erfundenes Land“, gebe den Chilenen „die Mentalität eines Inselvolks, und die großartige Schönheit des Landes macht uns überheblich“.
Besagter Trotz führt etwa dazu, dass schon im Kindergarten die chilenische Nationalhymne eingeübt wird, dass Chilenen jedweder politischer Couleur ganz warm ums Herz und feucht um die Augen wird, wenn sie ihre Hymne hören – und dass sie sich heute noch viel darauf einbilden, niemals in einem Krieg besiegt worden zu sein. In den sogenannten Salpeterkriegen in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts behielten sie unter ihrem bis heute landauf, landab verehrten General Manuel Baquedano (keine Stadt in Chile ohne Plaza Baquedano) die Oberhand über die Armeen Boliviens und Perus. Gern verweist man nicht nur in Militärkreisen auf diese Leistung: „Un ejercito vencedor jamas vencido – eine siegreiche Armee, die nie besiegt wurde.“
Stolz ist man in Chile aber auch auf die Gegenwart. Vor allem darauf, das wirtschaftlich erfolgreichste Land in Lateinamerika zu sein: mit einem stetig wachsenden Bruttoinlandsprodukt, einem sich sacht entwickelnden Mittelstand (in einem Land, das bislang nur arm und reich kannte, in dem „die Armen“ und „die Reichen“ gängige Ausdrücke sind), mit überdimensionierten Shopping Malls in allen Städten, besonders in Santiago mit seinen über fünf Millionen Einwohnern. Die Grundlagen dafür wurden unter Pinochet gelegt, der Ende der 70er Jahre den neoliberalen Ökonomen Milton Friedman und seine Chicago Boys ins Land holte. Deren neoliberale Wirtschaftspolitik übernahmen alle Nachfolgeregierungen seit Ende der Militärdiktatur 1990, was heute viele Chilenen die Pinochet-Zeit in mildem Licht sehen lässt.
Andererseits gilt auch in Chile: Der Wohlstand ist häufig einer auf Pump – und trifft nicht alle. Dafür muss man nur einmal von Santiagos Flughafen an den Wellblech- und Holzhüttensammlungen vor den Toren der Stadt vorbeigefahren sein; davon zeugen die zahllosen „Dulces“-Verkäuferinnen mit ihren weißen Tüchern auf der Ruta 5 von Santiago nach La Serena oder die Legionen von Eis-, Getränke- und Schnickschnackverkäufer an den Stränden des Nordens und in den Feriengebieten des Südens. Und mag unter Pineras Vorgängerin Michelle Bachelet das Sozialsystem ausgebaut worden sein: Bildung und Gesundheit sind weiterhin vor allem eine Frage des Geldes. Viele Chilenen schuften sich in zwei oder drei Jobs ab, um ihre Kinder auf private Schulen schicken zu können.
So ausgeprägt das Selbst- und Nationalbewusstsein Chiles ist, so sehr leidet es auch unter seiner geografischen Lage zum einen, seiner jüngeren Geschichte zum anderen. Wenn von Chile in der Welt die Rede ist, dann zwar schon mal vom guten chilenischen Wein oder seinem Traubenschnaps, dem Pisco. Zumeist aber geht es um den Sozialisten und inzwischen als Popstar verehrten Salvador Allende und den ihn 1973 aus dem Amt putschenden Augusto Pinochet. Unter Pinochets Verbrechen und ihrer zögerlichen Aufklärung leidet das Land bis heute. Trotzdem gilt der General gerade bei wohlhabenden Chilenen nicht als das Böse schlechthin.
Da bleibt oft im Verborgenen, dass sich das zutiefst katholische Land in seinen gesellschaftlichen Strukturen stark verändert hat. Dass die Frauen sich zunehmend emanzipieren, was die Männer überfordert; dass die Scheidungsraten höher werden, Psychotherapeuten enormen Zulauf haben und zudem eine Generation heranwächst, die Allende und Pinochet nur noch vom Hörensagen kennt.
So ist es eine Ironie des nationalen Schicksals, dass Chile dieses Jahr schon einmal mit einer Katastrophe weltweit für Aufmerksamkeit sorgte: dem Erdbeben im Februar, das stärker als das in Haiti war, das eine Menge wichtiger Infrastruktur zerstörte, aber im Vergleich zu Haiti „nur“ einige hundert Menschenleben kostete. Auffällig war, wie professionell das Land damals noch unter Bachelet mit der Naturkatastrophe umging, wie es zunächst gar ausländische Hilfe ablehnte. Und wie auch in diesen Tagen davon kaum die Rede ist. So mancher Stolz ist also berechtigt. Wiewohl es mit der von Pinera beschworenen Einheit nicht nur wegen Pinochet so eine Sache ist. Viele ins Land strömende bolivianische, peruanische oder kolumbianische Migranten werden sehr direkt mit der chilenischen Überheblichkeit konfrontiert. Und fast zeitgleich mit dem Beginn der Rettungsaktion an der Mine San José machten 32 inhaftierte Mapuche-Indianer auf ihr Schicksal und das ihres seit der Unabhängigkeit Chiles 1810 zuerst enteigneten, verfolgten, später diskriminierten Volkes mit einem Hungerstreik aufmerksam. Sie waren aufgrund eines Antiterrorgesetzes aus der Pinochet-Zeit in Haft genommen worden, angeklagt des Diebstahls, der Bildung einer kriminellen Vereinigung, versuchten Mordes. Kurz vorm Showdown in der Atacama-Wüste brachen die Mapuche ihren Hungerstreik ab, auch weil Pinera zugesagt hatte, das Existenzrecht der Urbevölkerung in der Verfassung festschreiben zu lassen. Die chilenische Geschichte war schon vor 1973 nicht nur ein Ruhmesblatt – der Umgang mit den Mapuche im Süden des Landes ist es bis heute nicht.
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