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Beengte Verhältnisse. Der wortkarge Wladimir (Henning Vogt), die unglückliche Braut Ursula (Wiebke Mollenhauer) und der „Krüppel“ Fürchtegott (Marcel Kohler).
© Arno Declair/DT

Eine Horváth-Ausgrabung am DT: Unterm Dach ein Ach

Horváth-Szenen, ausgegraben: „Niemand“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin.

„Versuch’s mal ein bisschen ostiger“, ermuntert die Prostituierte Gilda solidarisch ihre junge Freundin Ursula, die gerade ihren Job als Kellnerin verloren hat und notgedrungen auf der Suche nach testosterongespeisten Hilfsmaßnahmen ist. Also ironisiert sich Wiebke Mollenhauer als „abgebaute“ Kneipenkraft in der Artikulation ihres „Hungers“ akzenttechnisch vom Großraum Dresden (ein klares No-Go, wie Mentorin Gilda entsetzt zu verstehen gibt) über Warschau (schon besser) bis nach Irkutsk (perfekt).

Die Szene ist typisch für den zweistündigen Abend, den Dušan David Parízek in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin inszeniert hat: Man zeigt die Theatermittel her, bleibt semi-ironisch auf Distanz, hält aber immer Tuchfühlung zur Tragödie. Man will halt einerseits keinen Milieukitsch produzieren, die Figuren andererseits aber trotzdem irgendwie ernst nehmen: Ein theoretisch nachvollziehbares Dilemma, das in der Praxis selten zu überdimensionaler Tiefenschärfe führt – und das Parízek mit vielen Kolleginnen und Kollegen teilt.

An diesem Abend ist es von besonderer Tragweite, weil hier ein Gast auftritt, der zwar fast ein Jahrhundert auf dem Buckel hat, aber erst vor zwei Jahren überraschend auf der dramatischen Bildfläche auftauchte. „Niemand“, eine „Tragödie in sieben Bildern“, die Ödon von Horváth 1924, im Alter von 23 Jahren, schrieb, war über neunzig Jahre verschollen, bevor sie Ende 2016 am Wiener Theater in der Josefstadt zur Uraufführung kam. Das DT zieht jetzt mit der deutschen Erstaufführung nach.

Neben der Prostituierten Gilda, die Franziska Machens als bodenständige Pragmatikerin mit Rothaarperücke und sattem Drift ins Halbseidene aufs Szenario turnt, tummeln sich hier Gestalten wie der wortkarge, dafür aber latent umso gewaltbereitere Wladimir (Henning Vogt) oder der noch brotlosere Gelegenheitsgeiger Klein (Elias Arens) auf dem Fake-Parkett. Parízek, der gleichzeitig als Bühnenbildner firmiert, führt dieses dunkle Fußbodenmuster an der Bühnenrückwand fort. So entsteht, in Anlehnung an das Treppenhaus-Szenario, das der Dramatiker sich vorstellte, eine angemessen triste Schuhkarton-Mietskasernenatmosphäre, auf die zu Antiillusionismuszwecken immer wieder das Horváth’sche Manuskript projiziert wird.

Herr in dieser beengenden Hütte ist der „Krüppel“ Fürchtegott Lehmann, der selbige wegen einer Gliedmaßendeformation nicht verlassen kann, als Wucherer verschrien ist und schließlich Ursulas Gatte wird. Neben der Alternativlosigkeit und dem Minifunken Mitleid, die diese Ehe aus Sicht der sich ekelnden Braut gestiftet haben, sind in Horváths expressionistischen „Niemand“-Szenen kleinere und größere Betrügereien, Misshandlungen, aus der Existenznot geborene Kälte sowie Doppel- und Wiedergängerfiguren en masse an der Tagesordnung. Da wird Ursula von einer um einiges resoluteren Job-Nachfolgerin (Lisa Hrdina) heimgesucht. Und Fürchtegott, aus dem der interessant atypisch besetzte Marcel Kohler zweifelsfrei die differenziertesten Facetten dieses Abends herausholt, liefert sich einen finalen (Weltanschauungs-)Kampf mit seinem Bruder Kaspar (Frank Seppeler).

Parízek, ein reflektierter Kopf, der 2015 mit seiner zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Wiener Wolfram-Lotz-Urinszenierung „Die lächerliche Finsternis“ sehr zu Recht zum Regisseur des Jahres gekürt wurde, entdeckt in diesem frühen Horváth’schen Text die Verbindungslinien zum späteren Werk und implementiert ihm entsprechende Passagen; etwa aus „Glaube Liebe Hoffnung“ oder dem Roman „Jugend ohne Gott“. Das ist zwar plausibel gedacht und führt zu einer spürbaren Konkretisierung des Personals, das in der ursprünglichen Textvorlage um einiges abstrakter mit Gott, dem Dasein und weiteren philosophischen Entitäten ringt. Nur geht damit eben seltsamerweise kein gesteigerter Nuancenreichtum einher. Die Figuren bleiben an der Oberfläche – und sind, kaum steht man im Foyer, eigentlich auch schon wieder weg.

Wieder am 30. März und 8. April

Christine Wahl

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