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Kahle Bildräume: Eine Seite aus „Sabrina“.
© Blumenbar-Verlag

„Sabrina“ von Nick Drnaso: Unterdrückte Emotionen und leere Wände

Nick Drnasos Comic „Sabrina“ erzählt mit drastisch reduzierten Bildern von Verunsicherungen in der Kluft zwischen digitaler Welt und realer Tristesse.

2018 schaffte es „Sabrina“ von Nick Drnaso als erster Comic überhaupt, für den Man Booker Prize nominiert zu werden, der als die wichtigste britische Literaturauszeichnung gilt, und erhielt dadurch eine enorme Aufmerksamkeit der Medien.

Interessant, denn die Rolle der Medien im gesellschaftlichen und privaten Leben ist ein Hauptthema des knapp 200 Seiten starken Bandes. Kürzlich ist „Sabrina" auf Deutsch erschienen (Übersetzung Daniel Beskos und Karen Köhler, Blumenbar-Verlag, 208 Seiten, 26 Euro).

Als die Titelfigur, eine junge Frau Ende 20, spurlos verschwindet, verfällt ihr Freund Teddy in eine Depression. Während Sabrinas Schwester Sandra von ihrem Umfeld Nähe erfährt und aktiv versucht, sich aus der traumatischen Situation zu befreien, reist Teddy zu seinem Jugendfreund Calvin, den er seit Jahren nicht gesehen hat.

Teddy zieht in das leere Kinderzimmer und liegt dort über Wochen wie paralysiert auf der Matratze. Calvin kümmert sich um ihn, füttert ihn, versucht, ihm beizustehen. Seine Situation ist kaum weniger desolat: Frau und Tochter sind ausgezogen und leben weit weg. Er hat einen eintönigen Bürojob, ernährt sich von Fast Food.

Eine mächtige Parallelwelt voll extremer Bilder

Zwischenmenschliche Beziehungen unterhält er sporadisch zu Tochter und Ex-Frau über Video-Telefonie sowie zu seinen Arbeitskollegen, die er online zu Kriegsspielen trifft. Als Teddy verzweifelt zusammenbricht, löst Calvin die Situation auf, indem er den Fernseher einschaltet und mit ihm einen gefühlsbeladenen Bericht über das 9/11 Memorial Museum schaut.

In Fernsehen und Internet ist bei Drnaso eine mächtige Parallelwelt entstanden, in der unterdrückte Gefühle und Impulse wie Trauer, Freude, Wut und Aggression stellvertretend durch das Konsumieren extremer Bilder erlebt werden, während die reale Welt leer, trostlos und kalt wirkt.

Das Cover des besprochenen Bandes.
Das Cover des besprochenen Bandes.
© Blumenbar

Die Figuren wandeln durch kahle Räume in Beige, Braun und Grau. Leere Straßen, Plätze, Tische und Stühle laden nicht zum Verweilen ein. Es herrscht bedrückende Einsamkeit. Wo sind alle? Man muss vermuten: Sie sehen irgendwo auf einen Bildschirm.

Unter den trüben Farben lauert Gefahr

Drnasos Bilder haben etwas von düsteren Informationsgrafiken. Eine Art extreme Ligne Claire lässt die Figuren eher wie Stellvertreter als Charaktere erscheinen. Ihre Gesichter sind flach. Die Augen sind kaum mehr als schwarze Punkte, Augenbrauen und Münder sind feine Linien.

Doch beim Lesen entwickelt man bald eine hohe Sensibilität für diese Linien: Zeigen die Enden nach oben oder nach unten, sind sie gerade, kurz, lang oder etwa schräg? Umso dramatischer wirken die Panels, in denen plötzlich Bewegung in die Gesichter kommt.

Gezwungen zur Aufmerksamkeit, auch durch die kleine Schrift, entwickelt man selbst bald die Unruhe eines Beutetiers. So entsteht der Eindruck einer stetigen unterschwelligen Aggression in den Bildern. Was man sieht, scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein, unter den trüben Farben und leeren Räumen lauert eine diffuse Gefahr.

In aller Seelenruhe folgt Panel auf Panel, die statisch wirkenden Figuren bewegen sich langsam durch die Handlung. Dagegen überschlagen sich fast die Ereignisse in den sozialen Medien und greifen immer mehr in das Leben der Figuren ein.

Die Medien haben in „Sabrina“ einen Status erreicht, von dem aus sie nicht nur einzelne Personen, sondern das kollektive Bewusstsein einer Gesellschaft beeinflussen können. Lesend fragt man sich: Nur in Sabrinas Welt?

Hinweise auf tatsächlich geschehene Gewaltverbrechen, die durch ein immenses Medieninteresse Berühmtheit erlangten, mischt Drnaso mit absurden Verschwörungstheorien. Mit „Sabrina“ hat er einen beeindruckend vielschichtigen Comic über eine kollektive Unsicherheit in der Kluft zwischen digitaler Welt und real erlebter Tristesse geschaffen.

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