Digitalisierung der Klassik: Umblättern per Fußklick
Immer mehr Musiker nutzen Tablets statt Papiernoten, auch im Konzert. Bis ganze Orchester von E-Readern spielen, dauert es aber noch.
Der Geiger Daniel Hope tut es, auch Michael Barenboim, der Flötist Emmanuel Pahud, die Pianistin Yuja Wang und ihr Kollege Igor Levit. Sei es das Londoner Belcea Quartett oder das Berliner Armida Quartett: Sie alle spielen Musik vom Tablet und nicht mehr (nur) von Papiernoten. Das Zürcher Kammerorchester, seit kurzem unter Leitung von Hope, will bald gerne komplett von digitalen Readern spielen. Noch befindet sich das ZKO in der Pilotphase und sucht nach Partnern, zwecks Finanzierung der Technik. Der Kontrabassist und Bibliothekar Ivo Schmid ist seit einer Weile dabei, die Notenbestände einzuscannen. An der Opéra de Rouen experimentierten sie 2016 mit Tablets im Orchestergraben, und in Brüssel schon 2013.
Nie wieder Umblätterstress, nie wieder Probleme mit Funzellicht und verschatteten Seiten, nie wieder Koffer voller Noten auf Tournee: Spielen auch die Berliner Philharmoniker in, sagen wir, zehn Jahren vom Tablet? Und das analoge Notenmaterial, wandert es ins Museum?
Ortstermin im Berliner Konzerthaus. Simone Gramaglia, Bratscher des Quartetto di Cremona und einer der besten seines Fachs in Italien, zeigt vor dem Gastspiel-Auftritt, wie es funktioniert. Offline und mit einem BluetoothFußpedal zum Umblättern, es ist kinderleicht. Seit er jeweils exakt zum Taktwechsel aufs Pedal tippt, klappt es gut mit der Koordination zwischen Handbewegungen und Fußklick. Gramaglia ist Linkshänder, er merkte, dass er auch Linksfüßer ist, er tippt jetzt mit links. Die Geräte sollten entspiegelte Screens haben und aufgeladen sein, meint er, das ist auch schon alles: „Ein, zwei Stunden laden, das reicht für hundert Stunden.“
Die zweite Geige ist auch schon überzeugt
Der 43-Jährige ist ein begeisterter Tabletnutzer. Die zweite Geige des Cremona Quartetts hat er auch schon überzeugt; kürzlich spielten sie ein Schubert-Album mit dem Ex-Artemis-Cellisten Eckhart Runge ein, auch der spielt vom Tablet. Wie viele Kollegen nutzt Gramaglia die Notenlese-App forScore, er hat Hunderte Titel via Cloud verfügbar. Nicht nur die Schlepperei auf Reisen, auch der Albtraum herunterfallender, weil weit ausgeklappter, unhandlicher Noten ist für ihn Geschichte: Bei zeitgenössischer Musik ziehen viele Profimusiker die Partitur der platzsparenden Einzelstimme vor und kleben sich bislang ihre Seiten zurecht.
Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass Eintragungen wie Fingersätze oder Tempo- und Lautstärke-Angaben mit dem Digitalstift problemlos geändert oder gelöscht werden. Also Schluss mit dem Radiergummi-Geschmiere? „Wir Musiker sind faul, wir überkritzeln sowieso lieber mit immer dickerem Bleistift frühere Einträge“, gesteht Gramaglia. Alles vorbei. Außerdem tauscht er sich mit Kollegen in aller Welt über Spielweisen aus, indem er seine Eintragungen verschickt und teilt. Diese unkomplizierte Art des Gesprächs über Musik und ihre Interpretation war bisher nicht möglich.
Schöne neue Klassikwelt? Früher galt Zählen und Spielen, jetzt kommt mühelos erwerbbares Wissen hinzu, sagt Frank Reinecke, zweiter Geiger beim Berliner Vogler Quartett. Auch er spielt vor allem bei Proben inzwischen vom Tablet. Wie Gramaglia switcht er gerne zwischen seiner Stimme und der Partitur hin und her. So kann er zum Beispiel sehen: Ah, an dieser Stelle bei Mozart habe ich die lauteste Dynamik, interessant! Es ist „wie im Dunkeln spielen“, sagt Reinecke, es schärft die Sinne. Die Bastelarbeiten mit Papiernoten vor allem bei Neuer Musik wird er nicht vermissen. Auch wenn das Schnippeln und Kleben teils einzelner Takte zum Zweck bestmöglicher Umblätter-Stellen den Nebeneffekt hatte, dass man das Stück am Ende bestens kannte.
Schott, Bärenreiter und Henle stehen große Investitionen bevor
Und wie stellen die Notenverlage sich auf die Digitalisierung ein? Ob Schott, Bärenreiter oder Henle, um drei der renommierten deutschen Häuser zu nennen, alle stehen vor der Herausforderung, ihre Riesenkataloge zu digitalisieren. So kostspielig es ist, ganze Orchester mit hochwertigen Tablets auszustatten, so tief müssen auch die Verlage in die Tasche greifen. Noten bilden ein weit komplizierteres Zeichensystem als Buchstaben, weshalb eine E-Partitur für eine Symphonie oder eine Oper einen weit größeren Aufwand erfordert als die Umwandlung eines gedruckten Romans in ein E-Book.
Wolf-Dieter Seiffert, Geschäftsführer des G. Henle Verlags, stellt am Telefon zunächst klar, dass der Umsatz im Papiergeschäft nicht wegen vermehrt digitaler Produkte gesunken ist. Er beobachtet keinen Killing-Effekt, sondern im Gegenteil eine belebende Wirkung. Zwar gibt es ein Sterben der Musikalienhändler, vergleichbar dem der Buchläden. Aber deren „Feind“ sind nicht die digitalisierten Noten, sondern Online-Händler wie Amazon.
„Noch steht die Nachfrage nach digitalen Noten nicht im Verhältnis zu den notwendigen Investitionen“, gibt Schott-Unternehmenssprecherin Christiane Albiez zu bedenken. Schott digitalisiert seit etwa zehn Jahren – wobei die Nachfrage aus den USA erheblich höher ist als aus Europa. „Es gilt, sowohl Stich- und Papiervorlagen in PDF-Dateien umzuwandeln, als auch mit modernen, bereits digitalen Notensatzdateien zu arbeiten“, sagt Bärenreiter-Juniorchef Clemens Scheuch, der auch im Vorstand des MusikverlegerVerbands in Sachen E-Medien aktiv ist. Dort wird viel über die notwendigen Investitionen diskutiert, ebenso über den Schutz vor illegalen Downloads. Und über die Alternative Subskription oder Einzeldownload.
Wie kommen Musiker an die digitalen Noten?
Bärenreiter und Henle bieten Notenmaterial bisher nicht per simplem Download an. Bärenreiter brachte vor fünf Jahren den Study Score Reader für Studienpartituren auf den Markt, bei Henle ist es die mit einem britischen Softwarepartner entwickelte Henle-App. Eine Art Lesebibliothek, ein „in-app-purchase-Produkt, in das Sie zu einem bestimmten Credit-Preis einzelne Titel hineinkaufen können“, erklärt Wolf-Dieter Seiffert.
Das klingt spröde. Ist aber fantastisch, meint der Bratscher Gramaglia. Hier bekommt er seine Stimme plus Partitur und kann mühelos von hier nach da klicken, die Versionen sind verknüpft. „Das Gleiche kann der Pianist beim Beethoven-Klavierkonzert machen, wenn er die SoloStimme und den Klavierauszug oder die Orchesterpartitur erwirbt“, erklärt Seiffert. Ausgerechnet der konservative Henle Verlag, weltweit Marktführer für wissenschaftliche Urtext-Ausgaben, leistet sich dieses Zukunftsprojekt, das die Henle-Stiftung mit gut einer Million englischer Pfund finanziert. Andere kooperieren mit Subskriptionsplattformen wie Nkoda, einer Art Spotify für Noten, oder der Klavier-App Tido. Schott arbeitet jetzt fest mit der Noten-App Newzik zusammen. Der Carus-Verlag hat eine Chor-App entwickelt, als Übehilfe.
Wie kommen Laien- und Berufsmusiker an digitale Noten? Einerseits ist da die frei zugängliche, täglich wachsende Petrucci Music Library für gemeinfreie Werke (https://imslp.org), ein Wikipedia der Notenwelt mit aktuell 145 000 Werken. Andererseits bieten Profi-Apps neben den praktischen Verknüpfungen auch eine neue Variationsbreite bei Fingersätzen und Strich-Eintragungen an.
Manchmal werden Fingersätze von berühmten Musikern angeboten
Klavierschüler kennen das: Henle Noten präsentieren Fingersätze gleich mit. „In der Henle-Library kann man jetzt auf ,No Fingering‘ klicken und schon steht der nackte Urtext da“, so Wolf-Dieter Seiffert. Bei manchen Werken werden zusätzlich Fingersätze von berühmten Musikern angeboten. Zum Beispiel von Eugen d’Albert bei Beethoven-Klaviersonaten oder von Béla Bartók und Camille Saint-Saëns bei Mozart. „In einem Augenwimpernzucken legt sich deren Fingersatz auf den Urtext“: Das Feature, sagt Seiffert, wird gerne genutzt. Der Geiger Frank Reinecke wendet jedoch ein, die Fingersätze der anderen könnten die eigene Kreativität auch ausbremsen und den oft notwendigen Prozess von trial and error verhindern.
Also bitte, wie sieht sie nun aus, die Klassikszene in zehn Jahren?
„Ein Großteil der Musiker von morgen wird digital unterwegs sein. Es ist eine Generationenfrage“, sagt Wolf-Dieter Seiffert. Mit der Einschränkung, dass die Bereitstellung von Tablets einschließlich ständiger Wartung für große Orchester erst dann realistisch ist, wenn die Technik deutlich günstiger wird. „Jetzt ist die Zeit des Lernens und der Erprobung“, resümiert Christiane Albiez. Sie ist sicher, auch große Klangkörper spielen künftig vom Tablet. Nicht zuletzt an den Opernhäusern. „Der Regisseur, der Spielleiter und die Dramaturgen müssen dann nicht mehr Zettel und Bildchen in die Partitur kleben, sondern können Ideen ganz anders dokumentieren, von der Bühnenbildskizze bis zur Regieanweisung.“
Ein Klick, schon lesen alle die Eintragung des Dirigenten
Die Reader im Orchestergraben können zudem vernetzt sein: Ein Klick, und schon ist die Eintragung des Dirigenten oder des Stimmführers in alle Noten eingefügt. Aber die Umrüstung wird schon aus Kostengründen peu à peu geschehen, weshalb die Verlage bis auf Weiteres beide Darreichungsformen anbieten. Und bis große Orchester sich den dauerhaften Umstieg leisten können, finanziell, praktisch und mental, werden Jahre ins Land gehen.
Tablets sind nichts für Technikmuffel, meint jedenfalls Simone Gramaglia. Nichts ist schlimmer beim Musizieren als Ablenkung durch zusätzliche Nervosität. Gleichzeitig findet er, dass etwas mehr Eigenverantwortung der Notenwart-verwöhnten Musiker gar nicht so schlecht wäre. Ist mein Gerät aufgeladen? Habe ich vor Konzertbeginn die Technik gecheckt? So oder so haben billige Geräte auf den bitte stabilen Pulten nichts zu suchen: Da ist auch Gramaglia bei einem Auftritt unter Portugals Sonne mal die Seite eingefroren. Ein plötzlicher Bluescreen, das ist schlimmer als das ein heruntergefallenes Blatt.
„Eigentlich bräuchte man die Technik doppelt, als Backup-System, aber das ist finanziell nicht zu leisten“, sagt auch Clemens Scheuch in Bezug auf die großen Ensembles – und prognostiziert den künftigen Orchesterwart als IT-Spezialisten.
Die Ideen und Wünsche der Musiker fließen in die Entwicklung
Schon jetzt arbeiten die Verlage mit Blick auf die Zukunft eng mit den Musikern zusammen, bitten um deren Ideen und Wünsche. „Notendateien können künftig durch Musiker angepasst werden und ,intelligent‘ sein“, sagt Christiane Albiez. Ein Komfort, den bald immer mehr Kunden haben wollen. Überdies haben die Verlage Verträge mit Komponisten, denn sie erstellen aus deren bislang meist handschriftlichen Noten digitale Stimmsätze und Partituren. So mancher jüngere Komponist arbeitet schon mit Notensatzprogrammen und schickt fertige Dateien als Grundlage für die Notensetzer.
Was wünschen sich die ausführenden Musiker nun von digitalen Noten? Wollen sie bessere Lesbarkeit, die Möglichkeit beliebiger Vergrößerung wie bei E-Books? Das nun gerade nicht, denn viele Musiker können ihre Partie so gut wie auswendig, Noten brauchen sie nur zur Orientierung. „Sie wissen genau, auf Seite 17 rechts wird es knifflig, da muss ich aufpassen“, sagt Clemens Scheuch. Deshalb müsse das gedruckte Notenbild einschließlich der Seitenumbrüche möglichst getreu übertragen werden. Bisher jedenfalls.
Der Geiger Frank Reinecke wünscht sich lieber einen reinen Noten-Reader, ein Tablet, auf dem er nicht auch noch seine Mails lesen und andere Dokumente verwalten kann. Simone Gramaglia will vor allem mehr Noten auf einen Blick. Querformate für Doppelseiten gehören zu den Hauptwünschen, die etwa an Henle herangetragen werden. Gramaglia liebäugelt jetzt mit diesem japanischen Din-A 4-Aufklappmodell. Er wartet noch, bis es billiger wird.