Adam Zagajewski: „Die kleine Ewigkeit der Kunst“: Seelenvögel über der Weichsel
Zwischen Brahms und BBC: Adam Zagajewski schreibt in „Die kleine Ewigkeit der Kunst“ ein Tagebuch ohne Datum - und erfährt ein ungeheuerliches Glücksgefühl ausgerechnet im Hinterland von Venedig.
„In Lemberg ein komischer Moment: Am ersten Tag warf ich meinen Reisegefährten beim Abendessen unvermittelt vor, sie verstünden diese Stadt nicht – hier gebe es wunderbare Dinge, wenn auch verborgen“, notiert Adam Zagajewski vor einigen Jahren beim Besuch des ukrainischen Lwiw, der Stadt, in der er 1945 geboren wurde, gerade als das bis dahin polnische Lemberg der Sowjetunion eingegliedert und seine Familie nach Gleiwitz zwangsumgesiedelt wurde. Zagajewski, der zu den bekanntesten Dichtern und Essayisten Polens gehört, ist ein Vertriebener der zweiten Generation. In seinem kürzlich erschienenen Tagebuch „Die kleine Ewigkeit der Kunst“ erzählt er von den sonntäglichen Familientreffen seiner Jugend: ironisch, frei von Nostalgie und doch, wie er zugibt, zeitlebens mit der Frage beschäftigt, worin das Geheimnis bestand, das in den weit zurückreichenden Erinnerungen seiner Verwandten an das Völker- und Sprachengemisch des galizischen Lemberg immer wieder beschworen wurde.
„Die kleine Ewigkeit der Kunst“ ist ein „Tagebuch ohne Datum“, ein Arbeitsjournal, in dem sich Gegenwärtiges und Vergangenes, Leben und Kunst vielfach überlagern. Zagajewski durchquert ohne Anspruch auf erzählerische Schlüssigkeit die Stationen seines Lebens, mischt Impressionen aus dem heutigen Krakau, wo er nach 20-jährigem Paris-Aufenthalt wieder lebt, mit seiner Studentenzeit, als sich die Opposition gegen den polnischen Kommunismus formierte. Er vernetzt die Facetten seiner künstlerischen und intellektuellen Vorlieben neu, gewinnt daraus längere Gedankenspiele über Glück und Elend der Poesie oder kluge Reflexionen über die Rolle der Musik in seinem Leben.
Zagajewski, der sich als junger Kritiker für neue Töne in der polnischen Lyrik engagiert und Publikationsverbot erhalten hatte, entscheidet sich 1982 – nicht als Dissident, sondern der Liebe wegen – für ein Leben in Paris. Auf Spaziergängen durch die noch fremde Großstadt hat er immer einschlägige Lektüre dabei, literarische Beschreibungen von Paris, meist aber Journale und Tagebücher wie das des polnischen Emigranten Józef Czapski, mit dem er an der Zeitschrift „Kultura“ arbeitet. Czapskis Eindrücke der Parks, Cafés und Galerien, schreibt er, legen sich „über die reale Stadt wie eine Kopie über das Original“, wecken den Wunsch, es ihm gleichzutun, geben den ersten Anstoß für „Die kleine Ewigkeit der Kunst“.
Zagajewski distanziert sich von den Strukturalisten
Eine Zeit lang begleiten ihn die Aphorismen des rumänischen Philosophen Emil M. Cioran, den er als hochbetagten Mann in Paris kennenlernt. Aber gegen die illusionslose Schärfe von Ciorans Denken wappnet er sich schließlich, auf der Suche nach dem ganz Anderen, mit den „Cahiers“ der französischen Mystikerin Simone Weil. Sie inspirieren ihn zu einer Hommage an Weil, seinem 1997 auch auf Deutsch erschienenen Gedichtband „Mystik für Anfänger“.
Zagajewskis Verhältnis zu den tonangebenden intellektuellen Kreisen der Strukturalisten bleibt distanziert. Mit ihrem Glauben an die Bedeutung der Methode erinnern sie ihn auf die eine oder andere Weise an den ideologischen Dogmatismus, dem er in seiner Jugend ausgesetzt war. In seiner Pariser Zeit wird er zum Kenner und Liebhaber der literarischen Moderne, ohne je die große polnische Dichtung des 20. Jahrhunderts – Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert oder Wislawa Szymborska – aus den Augen zu verlieren. 1987 erhält er das Angebot, als Gastdozent in Houston Lyrik-Workshops abzuhalten, amerikanischen Studenten das Erbe der polnischen Dichtung zu vermitteln, eine Tätigkeit, die er, seit 2007 in Chicago, bis heute fortsetzt.
In „Die kleine Ewigkeit der Kunst“ hat Zagajewski auch seine erste Begegnung mit dem westlichen Ausland festgehalten. Vom Geld seines ersten Literaturpreises fährt er 1975, wie viele polnische Schriftsteller vor ihm, nach Venedig. Die Touristenströme irritieren ihn, sein Wissen, wie Goethe oder Thomas Mann die Stadt gesehen haben, erweist sich als wenig förderlich. Venedig fasziniert ihn und hüllt sich zugleich in einen für ihn undurchdringlichen „Dunst des Ruhms“.
Die tägliche Entscheidung zwischen Brahms und BBC
Jahrzehnte später führt ihn eine Totenfeier anlässlich der Überführung seines Freundes, des russischen Lyrikers Joseph Brodsky, der 1996 in New York gestorben war, wieder nach Venedig. Danach, auf einer Fahrt durch Venetien, löst sich seine traurige Stimmung; und diesmal, scheint es, kommt ihm auch seine Belesenheit zu Hilfe. Er erinnert sich an ein seltsames Gedicht des Italienkenners Zbigniew Herbert, das von einer armen Provinzstadt handelt – der sozusagen gesichtslosen Rückseite des glanzvollen Venedig, das Zagajewski gerade hinter sich gelassen hat. Schwalben durchschneiden an diesem hellen Junimorgen mit ihren rasanten Flügen die Luft nach allen Seiten und erfüllen ihn mit einem unerklärlichen Glücksgefühl. Die Erinnerung an diesen Moment hält an, verändert seine Wahrnehmung, macht aus den Schwalben, denen er in späteren Jahren am Weichselufer begegnet, Seelenvögel, mythische Wesen der Erneuerung.
Zagajewski hat bereits früher in Essays betont, dass zur Poesie wie zum Leben immer beides gehöre: der leidenschaftliche Moment jäher, fragloser Gewissheit und der nüchterne Blick auf die historische Welt mit ihren unaufhörlichen Metamorphosen. Das Leben verlange von ihm die tägliche Entscheidung zwischen Brahms und BBC. Manchem jüngeren Dichter, schreibt er, sei nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, was er unter „geistigem Leben“ verstehe. „Die kleine Ewigkeit der Kunst“ ist eine Antwort darauf – einfach und kompliziert, wie wenn sich „im Helm eines Astronauten Erde, Sterne und das Gesicht des Menschen spiegeln“.
Adam Zagajewski: Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann und Renate Schmidgall. Carl Hanser Verlag, München 2014. 320 S., 21,90 €.
Rolf Strube
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