Kammeroper Schloss Rheinsberg: Türme und Tauben
Expedition in den Spätbarock: Die Kammeroper Schloss Rheinsberg poliert das vergessene Juwel „Gli Orazi e i Curiazi“ wieder auf.
Zu den Waffen, es herrscht Krieg! Die Bajonette sind gezückt, Fahnen wehen auf zwei rostbraunen Türmen: Rot und Blau, die Farben der im Clinch liegenden Städte Rom und Alba Longa, die ihre Fehde ein für alle Mal mit Blutvergießen ausfechten wollen. Doch was, wenn die Schwester des einen Anführers dessen Widersacher liebt und umgekehrt?
Bei der ersten Opernpremiere der Kammeroper Schloss Rheinsberg im diesjährigen Freiluft-Festivalsommer stehen die ganz großen Gefühle im Mittelpunkt: Liebe, Hass, Stolz und überschwänglicher Patriotismus. Mit „Gli Orazi e i Curiazi“ von Domenico Cimarosa hat der neue künstlerische Leiter, Georg Quander, eine Expedition in die Operngeschichte unternommen. Die Neuaufführung des 1796 in Venedig uraufgeführten Stücks gleicht einer musikalischen Ausgrabung. Das Werk war schon fast in Vergessenheit geraten – seit den späten achtziger Jahren findet sich kein Hinweis auf bedeutende Aufführungen. Und auch davor war das zu seiner Zeit sehr erfolgreiche Stück vor allem Musikhistorikern ein Begriff. Dabei gilt es als bedeutendstes tragisches Werk des ansonsten für seine komische Opern bekannten Komponisten – und als Lieblingsoper Napoleons.
Für das Festival junger Opernsängerinnen und -Sänger wurde das Libretto nun im Auftrag der Kammeroper von Roland Steinfeld, wie es heißt „textkritisch“ – also quasi mit Spitzkelle und Pinsel –, geborgen und entstaubt. Im Original findet das Drama in der legendenumwobenen römischen Königszeit statt, der Frühepoche der römischen Antike. In Quanders Neuauflage sind Zeit und Raum allerdings variable Größen geworden. In den Grundzügen wurde das Drama in seine Entstehungszeit und damit gleichzeitig in die Blütezeit des Rheinsberger Schlosses verlegt: Barocke Roben und Perücken fügen sich perfekt ein in die Kulisse des Friderizianischen Rokokos. Später werden auch Bilder des Ersten Weltkriegs an die Mauern des Kavalierhauses projiziert. Sie sollen zeigen, dass Krieg zu allen Zeiten das größte Laster der Menschheit war und ist, die Metapher funktioniert.
Erstmals wird auf dem Vorhof des Kavaliershauses gespielt
Das eigentliche Geschehen bleibt von diesem zeitlosen Ansatz denkbar unbeeindruckt. Schließlich ist das Drama der zwei Liebenden aus verfeindeten Familien, die Spannung zwischen himmelhochjauchzendem Eifer und zu Tode betrübendem Herzschmerz ein universelles Motiv. Shakespeares Romeo-und-Julia-Thema zieht sich durch die Geschichte des Musiktheaters.
Anlässlich der Premiere gibt der Vorhof des Kavaliershauses, in der die Rheinsberger Musikakademie beheimatet ist, seinen Einstand als Spielort. Er ist neben dem Heckentheater, Schlosstheater und Schlosshof jetzt der vierte Schauplatz am Grienericksee. Dafür wurde extra eine gestufte Bühne errichtet, die die Zuschauer durch den leicht ansteigenden Platz auf Augenhöhe mit den Darstellern bringt. Die acht Solisten werden vom ebenfalls mitspielenden Apollo-Chor der Berliner Staatsoper unterstützt. Im Hintergrund erhebt sich das pittoreske Schloss, auf das die Sonne am Freitagabend vereinzelte Lichtstrahlen wirft.
In der Pause zwischen zweitem und drittem Akt spazieren die Zuschauerinnen und Zuschauer bei milden Temperaturen zwischen den Büsten des Schlossgartens umher. Die aufwändige Restaurierung des Schlossensembles liegt auch schon wieder zwanzig Jahre zurück.
Stolz des Barock, Leichtigkeit der Romantik
Für die Kammerakademie Potsdam, die die Cimarosas-Tragödie musikalisch begleitet, ist die Oper vor allem deshalb eine Gratwanderung, weil sie aus einer Ära des Umbruchs stammt. Während die großen Meister der Sinfonie gerade in Wien die europäische Musik revolutionierten, taten sich die Opernkomponisten deutlich schwerer „ihre“ Gattung von der Statik des Barocks zu befreien und für die Ideen der Romantik zu öffnen.
Unter der Leitung von Markellos Chryssicos gelingt es dem Orchester, beide Stimmungen zu bedienen: den tragenden Stolz aus dem Barock und die aufgeklärte Leichtigkeit der Romantik. Durch die nuancierte Begleitung bleibt so genügend musikalischer Raum für die Solisten. Der Vorhof funktioniert nicht als Verstärker. Sie beherrschen das Terrain allein durch ihre beeindruckende Stimmgewalt. Mal singen sie von fern, von der Bühnenbalustrade hinter dem Orchester aus, mal hoch oben auf den etwa fünf Meter hohen Türmen. Sie bestimmen das Bühnenbild, das aus gemalten römischen Ruinen und einer in der Mitte aufgebauten Altarschale besteht. Der brasilianische Tenors Wagner N. S. Moreira tritt zwischenzeitlich sogar aus den Zuschauerreihen heraus: Mit wallendem, purpurrotem Mantel und glänzender Rüstung verkündet er als Marco Orazio dem römischen Volk mit geschwellter Brust den Sieg über den Erzfeind.
Ein Friedensengel mit aufsteigenden Tauben
Die Show stiehlt ihm jedoch das Liebespaar: Sopran Samuel Mariño aus Venezuela spielt den zwischen Patriotismus und bedingungsloser Liebe zerrissenen Curiazio leidenschaftlich und großartig unterhaltsam. Wie er dabei seine Stimme im Falsett schwindelerregende Höhen erklimmen lässt, versetzt das Publikum regelmäßig in Staunen.
Auch Sopranistin Shixuan Wei steht ihm als Orazia in nichts nach. Sie glänzt in der die Inszenierung beherrschenden Rolle der um Frieden ringenden Römerin, die nach dem Tod ihres Geliebten die eigene Stadt mit schmerzverzerrtem und dennoch glasklarem Vibrato verflucht. Bevor sie dafür von ihrem vor Stolz und Hass verblendetem Bruder erstochen wird, gehört ihr die Szene des Abends: Am rauchenden Altar stehend, appelliert sie umgeben von den Bürgern beider Städte an deren Vernunft. Hinter ihr steigen projezierte Tauben auf. Mit ausgestreckten Armen wird sie so zu einem Friedensengel, der wieder der ewigen Kriegssucht der Menschen zum Opfer fällt.
(Weitere Aufführungen: 21., 23., 24., 26. und 27. Juli, Programminfos: kammeroper-schloss-rheinsberg.de)
Jakob Wittmann