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Mawil an seinem Zeichentisch.
© Thomas Hummitzsch

Mawil-Porträt: Triumph mit der Kelle

Der Zeichner Mawil hat mit seinem Tischtennis-Heldenepos „Kinderland“ den wichtigsten deutschen Comicpreis gewonnen. Ein Treffen an der Platte.

Der Jubel im Markgrafentheater von Erlangen war frenetisch, als der Max- und-Moritz-Preis für das Beste Comicalbum 2014 an den Zeichner Markus Witzel alias Mawil und seinen Band „Kinderland“ verliehen wurde. Kaum einem gönnte es die versammelte Szene der Neunten Kunst mehr als dem sympathischen Berliner, der mit seinen gezeichneten Kindheitserinnerungen auf dem Höhepunkt seines bisherigen Schaffens angekommen ist.

Der 37-Jährige erzählt in „Kinderland“ die Geschichte des 13-jährigen Brillenträgers Mirco Watzke. Es ist der heiße Sommer 1989. Mirco geht auf die Tamara- Bunke-Oberschule. Die Rangordnung dort ist klar: oben die Coolen, unten die Nerds. Mirco gehört zu Letzteren. Aufgelöst ist diese Hierarchie nur an der Tischtennisplatte. Hier gilt die Macht der Kelle, so dass auch ein Knirps wie Mirco Watzke die Chance hat, Draufgängern wie Dominik „Bolzen“ Boltenhagen und Karsten „Prinz“ Prenzlau – uiiik, drrib, drrib, pofff, schnibbel, paff, slurp, zinnng – eins auszuwischen. An der Seite seines besten Freundes Torsten Maslowski, ein sympathischer Rüpel, gewinnt Mirco Selbstvertrauen und zettelt mit einem Tischtennisturnier zum Pioniergeburtstag sogar eine kleine Revolution an.

Seit Mai liegt „Kinderland“ in den Buchläden und hat sich zum aktuellen Topseller des Reprodukt-Verlags entwickelt. Die ersten 5000 Exemplare sind fast ausverkauft, die zweite Auflage kommt im Herbst aus der Druckerei. Mawil selbst halten seit Wochen Drehtermine, Interviews, Lesungen und Ausstellungen auf Trab. Als wir uns in seinem Studio treffen, saß er seit vier Wochen nicht mehr an seinem Zeichentisch. Verwaist sieht der dennoch nicht aus, eher so, als hätte er gerade noch daran gesessen. Ein wohlsortiertes Durcheinander von Zetteln, Skizzen und Seitenaufrissen. Vor dem Tisch ein Barhocker und ein paar großväterliche Pantoffeln. Sie sind das sichtbarste Zeichen, dass Mawil in dem Prenzlberger Hinterhofatelier, das er sich mit den Comiczeichnern Naomi Fearn, Reinhard Kleist und Fil teilt, auch ein Zuhause hat.

Sieben Jahre hat Mawil, der auch für den Tagesspiegel am Sonntag zeichnet, an seinem DDR-Endzeit-Ping-Pong-Helden-Epos gearbeitet. Wie oft er sich mit Tischtennis abgelenkt hat, ist nicht überliefert, aber dass er ein passionierter Spieler ist, kann man den dynamischen Tischtennisszenen unschwer entnehmen. „Wir haben immer viel gespielt, auf dem Schulhof und auf Klassenfahrten sowieso“, erinnert er sich. Und wir beschließen, uns an einer nahe gelegenen Platte ein paar Bälle um die Ohren zu schmettern. Das Gespräch kommt auf die verschiedenen Arten des Rundlauf-Spiels – Chinesisch, Deutsch, Englisch. Derweil nehmen die Ballwechsel immer mehr Raum ein, halbherzig vor sich hin spielen funktioniert bei uns beiden nicht. In einer Spielpause erzählt Mawil, dass er mit Lona Rietschels „Mosaik“-Heften die Comicwelt für sich entdeckt hat. Sein erstes Heft „Das Magische Siegel“ aus dem Jahr 1983 steht signiert und gerahmt an seinem Arbeitsplatz. Später entdeckte er André Franquins Geschichten von „Spirou und Fantasio“ und Bill Wattersons „Calvin & Hobbes“. Von ihnen hat er sich die federleichte, augenzwinkernde Ironie abgeschaut.

Mawil zeigt sich in "Kinderland" als sehr guter Menschenbeobachter

Pubertätswirren in Ost-Berlin. Szene aus Mawils "Kinderland".
Pubertätswirren in Ost-Berlin. Szene aus Mawils "Kinderland".
© Reprodukt

Mawil studierte mit Comicautoren wie Ulli Lust und Jens Harder an der Kunsthochschule Weißensee – aus heutiger Sicht die Kaderschmiede einer ganzen Generation deutscher Comiczeichner. „Ohne diese Menschen wäre ich vielleicht viel zu schüchtern gewesen, um auf die Idee zu kommen, Comics zu machen“, sagt er rückblickend. Zum Glück hat Mawil sich getraut. Seit 2002 schon zeichnet er eigene Alben. Bislang sind seine lachmuskelherausfordernden Meister-Lampe-Geschichten bekannter als die autobiografischen Alben „Wir können ja Freunde bleiben“, „Die Band“ und „Action Sorgenkind“. Das wird sich mit „Kinderland“ international ändern. In Frankreich wechselt er nun vom Alternativcomiclabel 6 Pieds sous terre zum renommierten Verlagshaus Gallimard.

Man könnte meinen, Mawils frühere Comics seien Testballons gewesen, um herauszufinden, wie sehr man Sprache in Slang schieben, Figuren abstrahieren und mit Perspektiven und Motiven spielen kann, um nun eine ebenso authentische wie ironische Geschichte aus der eigenen Jugend vorzulegen. Dieser Comic ist ein bis ins letzte Detail stimmiges Fest des Alltäglichen und Profanen, in dem er all seine Talente zusammengeführt hat. Ein Vergnügen, die unzähligen Kleinigkeiten, etwa die Milchtüten in der Schule, zu entdecken. Ob Frisuren, Kleidung, Habitus oder Duktus: Mawil ist ein guter Menschenbeobachter.

Während die politischen Umbrüche beginnen und die Erwachsenenwelt immer stärker in Mircos Kinderland drängt, ändert sich sein Leben fundamental. Der bislang sorgenfreie FKK-Urlaub „mit Mutti und Vati“ ist plötzlich peinlich, und auf der Klassenfahrt fliegen die Blicke zwischen den Geschlechtern bei „Piepel’a piepel’sso weischudibii“ hin und her. Was sind da schon politische Umwälzungen? Doch sie kommen unaufhaltsam, schieben sich vor Adoleszenz und Tischtennisturnier. Der Fall der Mauer wird zu Mircos persönlicher Tragödie.

Der Band ist geprägt von einer melancholischen Grundstimmung, ostalgisch ist er aber nicht. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, „dass der Osten voll schlimm oder total toll war. Für uns Kinder war es einfach nur eine Kindheit in einem kleinen Land. Aber für alle, die zehn Jahre älter und ihre ganze Jugendzeit eingesperrt waren, die haben das natürlich ganz anders erlebt“, sagt Mawil. Entsprechend durchlebt sein Held das ganz normale Chaos des Erwachsenwerdens – eine Zeit, in der man nichts richtig machen kann. Mawil steht dennoch ganz auf seiner Seite: „Auch wenn Mirco in dem Comic kaum reifer wird, hoffe ich, dass er am Ende doch an diesen Situationen wächst. Vielleicht geht es ihm ein wenig wie mir und er ist in Sachen Erwachsenwerden einfach ein Spätzünder. Ich fühle mich auch heute noch nicht richtig erwachsen.“

Mawils „Kinderland“ überzeugt nicht nur durch den souveränen Strich, den Detailreichtum und die mitreißend erzählte Story, sondern weil es direkt dorthin zielt, wo das Herz geöffnet und Tränen der Rührung und der Freude produziert werden. Vielleicht gelingt Mawil ein solcher Coup de Cœur mit seinem nächsten Comic erneut. Diesmal geht es um seine zweite Leidenschaft – das Fahrradfahren.

Mawil: „Kinderland“. Reprodukt Verlag 2014. 280 Seiten. 29€.

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