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Systemfrage: Eine Seite aus dem besprochenen Buch.
© Reprodukt

Mawils „Kinderland“: Spiel des Lebens

Mitreißend, witzig, tiefgründig: Zehn Jahre nach seiner letzten längeren Comic-Erzählung meldet sich der Berliner Comicautor Mawil mit der grandiosen Graphic Novel „Kinderland“ zurück.

Wo sogar ein Tischtennisturnier pubertierender Schüler zur Frage des Klassenstandpunktes erhoben wird, da kann der Fall der Berliner Mauer schon mal zur Nebensache geraten. Der Siebtklässler Mirco Watzke wird am 9. November 1989 von der Öffnung der innerdeutschen Grenze kalt erwischt. Kurz zuvor schien sein Traum – ein Wettbewerb in seiner Lieblingssportart an seiner Ost-Berliner Oberschule – endlich greifbar nah. Dann zerfällt über Nacht nicht nur der Staat, in dessen engen Grenzen er sein ganzes Leben verbracht hat. Sondern er merkt auch, dass seine Kindheit vorbei ist.

„Kinderland“, die erste lange Comicerzählung des auch für den Tagesspiegel arbeitenden Autors und Zeichners Mawil seit zehn Jahren, führt in jene Welt, über die es im Film „Sonnenallee“ heißt: „Wir waren jung und verliebt, es war unsere schönste Zeit“.

Für einen Max-und-Moritz-Preis nominiert

Auch für das Muttersöhnchen Mirco wird es eine schöne Zeit, wenngleich er es anfangs nicht einfach hat. Zum einen wegen seiner schüchternen, eigensinnigen Art. Zum anderen weil er als Messdiener und Kind regimekritischer Eltern eher quer zum System steht. Aber durch glückliche Zufälle und vor allem dank seiner Tischtennisbegabung emanzipiert sich der strebsame Brillenträger und zeigt auch den halbstarken Rabauken an seiner Schule, wo der Schläger hängt.

Diese mit dynamischen Bildfolgen und geschickt angelegten Figuren erzählte Coming-of-Age-Geschichte entfaltet sich vor dem Hintergrund der letzten Monate vor dem Mauerfall. So wird die Charakterentwicklung und Selbstfindung der autobiografisch inspirierten Hauptfigur zur Metapher für die Befreiung der Ostdeutschen aus der SED-Vormundschaft.

Vor allem aber ist es eine mitreißend erzählte, allgemeingültige, witzige und trotz ihres locker wirkenden Funny-Stils in die Tiefe gehende Geschichte darüber, wie verwirrend, aufregend und beglückend es sein kann, als junger Mensch seinen eigenen Weg zu finden.

Der Repressionsstaat scheint nur gelegentlich auf – wie bei einem Streit mit der Pionierleiterin um die Frage, ob ein Tischtennisturnier die richtige Form ist, den Jahrestag der „Jungen Pioniere“ zu feiern. Viel wichtiger ist es für Mawils Helden, seine eigenen Träume zu verfolgen, Freundschaften zu schließen, das andere Geschlecht zu entdecken, sich gegen Widerstände durchzusetzen, Rückschläge auszuhalten.

Und irgendwann zu merken, dass das imaginäre „Kinderland“, dass der DDR-Liedermacher Gerhard Schöne einst als Paradies irgendwo zwischen Affenstrand und Schlaraffenland beschrieb, zwar für eine bestimmte Zeit ein passabler Ort zum Aufwachsen sein kann – dass aber im Falle des realen Kinderlandes DDR jenseits von dessen Grenzen eine größere, spannendere Welt darauf wartet, entdeckt zu werden.

Autobiografisch geprägt: Das Cover des besprochenen Buches.
Autobiografisch geprägt: Das Cover des besprochenen Buches.
© Reprodukt

Zuvor serviert einem Mawil aber noch das wohl spektakulärste Tischtennismatch, das der deutsche Comic je gesehen hat.

Mawil: Kinderland, Reprodukt, 292 Seiten, 29 Euro. Leseprobe auf der Verlags-Website.

Hinweis: Das Buch wurde kürzlich für die wichtigste deutschsprachige Comicauszeichnung nominiert, den Max-und-Moritz-Preis, der im Juni beim Comicsalon Erlangen vergeben wird. Hier kann man über den Max-und-Moritz-Publikumspreis mit abstimmen.

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