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Die Anonymen Alkoholiker waren ihre Rettung. Die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Leslie Jamison, 35.
© Beowulf Sheehan/Verlag

"Klarheit" von Leslie Jamison: Trinken schafft nichts von Dauer

Leslie Jamison erzählt in "Die Klarheit" von ihrer Genesung – und vom Alkoholismus berühmter Kollegen und Kolleginnen.

Als Leslie Jamison das erste Mal bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker ihre Geschichte erzählt, eben die ihres Alkoholismus, ruft irgendwann einer der Veteranen dazwischen: „Langweilig“. Das habe sie komplett aus der Fassung gebracht, schreibt Jamison in ihrem Trinkerinnen-Buch „Die Klarheit“. Zumal sie sich bei ihrer Version „gerade darin zu gefallen begann, dass ich meinen erzählerischen Anspruch zugunsten einer emotionalen Offenherzigkeit aufgegeben hatte“.

Der Einwurf ihres Leidensgenossen ist für Jamison deshalb so schockierend, weil sie sich als Literaturdozentin und Schriftstellerin etwas auf ihr Talent zum Geschichtenerzählen einbildet. Es braucht einige Zeit, die auch die Zeit einer zumindest vorläufigen Genesung ist, bis ihr klar wird, dass es bei den Anonymen Alkoholikern, in Trinkerinnenfällen wie den ihren, nicht um die bessere, die besonders außergewöhnliche Geschichte geht. Sondern nur um die eigene, individuelle, womöglich schon tausendfach erzählte. Und dass sie, im besten Fall, jemand anders schon genauso widerfahren ist. Was für Jamison zunächst ebenfalls etwas Schockartiges hat: „Die Einzigartigkeit aufzugeben war, wie meine eigenen Körpergrenzen aufzugeben. Was würde von mir bleiben, wenn ich nicht einzigartig war?“

Immerhin eine Autorin, die es geschafft hat, auf fast 600 Seiten die Geschichte nicht nur ihres eigenen Alkoholismus, ihrer eigenen Räusche und ihrer eigenen Genesung zu schreiben, sondern auch die anderer, gerade auch anderer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, über deren Trinkereien und ihren Kampf, dem Alkohol zu entsagen. Einen Kampf, den diese übrigens, das muss man nach der Lektüre konstatieren, letztendlich zwar alle mal eine Zeit lang gewannen, am Ende aber verloren haben, in Form von Suiziden, Krankheiten und Alkoholkonsum bis ins hohe Alter. Im Fall von Jamison scheint es bislang anders zu sein.

Mit 21 Jahren begann Jamison mit dem harten Trinken, in Iowa City

Sie hat es im Verlauf ihres Schreibens und ihrer „zweiten Nüchternheit“, wie sie es nennt, gewagt, die Geschichte ihrer Geneseung als genauso bedeutsam, in jedem Fall erzählenswert zu halten wie die von Trinkerromanen beispielsweise eines Malcolm Lowry mit seinem „Unter dem Vulkan“ oder eines Stephen King mit seinem „Shining“. Um gleichermaßen bei sich selbst auf sowas wie „Literarizität“ oder wenigstens Spannung zu verzichten. Nüchtern und schonungslos schildert sie ihre eigenen Trinkerinnenerlebnisse, selbst den allerschönsten Rausch will sie nicht idealisieren.

Auch wenn eine jüngere Version von ihr das tat, als sie mit 21 erstmals nach Iowa City zog, um hier ihren Master im Studiengang Kreatives Schreiben zu machen und auf den Spuren von John Cheever, Raymond Carver und Denis Johnson zu wandeln. Die Sucht kam ihr schon „produktiv“ vor in der ersten Phase ihres Trinkens. Doch im Folgenden wird all das zunehmend erbärmlicher und sie zu einer vor allem einsamen Trinkerin, die sich bereits am Morgen darauf freut, ja, sich förmlich danach sehnt, sich abends zu besaufen. Was ihr in der Zeit ihrer Entwöhnung durchaus fehlt, was sich wie eine Leerstelle anfühlt.

Jamison ist gleichermaßen ehrlich wie analytisch und fahndet auch nach den Gründen, warum sie zur Alkoholikerin wird: familiäre Disposition, Mangelgefühle, die Sehnsucht nach einem Mehr, nach Erlösung, nach einer immer währenden Glückseligkeit, das Ungenügen, den Werten entsprechen zu können, mit denen sie erzogen wurde, Werte wie Leistung bringen oder stete Begeisterung zeigen. Und sie erzählt dann auch, mitunter eine Idee zu detailreich, von ihrer langjährigen Liebesbeziehung zu Dave, einem Kommilitonen und Lyriker. Noch jedes Gericht, was die beiden kochen, ist ihr einer Erwähnung wert, noch die Verzierung jedes Plätzchen, das sie bei ihrem Job in einer Bäckerei frühmorgens in den Ofen schiebt, noch jede Party, die beide geben, wird in allen Einzelheiten beschrieben: „Es war Oktober, und auf das Buffet stellten wir Oktopus. Wir kauften ihn eingefroren in einem großen Eisblock und servierten ihn wie Schnaps, in kleinen Pappbechern voll gebratener Tentakel. Wir bereiteten ihn ,in der Hölle' zu, so wie wir es in Italien gelernt hatten, ganz zu Beginn.“

Doch gehört diese Genauigkeit, der Versuch, das Ganze farbiger zu gestalten, wohl mit zum Entwöhnungsprogramm. Zumal Jamisons Buch explizit das einer Heilung sein soll, eine Mischung aus Autobiografie und Essay, aber eben auch an den zwölf Punkten des AA-Programms entlang geschrieben. „Die Klarheit“ ist so auch ein Porträt und die Geschichte der Anonymen Alkoholiker, inklusive ihres Gründers Bill Wilson und der einiger nicht prominenter Leidensgenossen, die hier Sawyer oder Gwen heißen. Und die natürlich literarisch nicht so interessant sind wie die Trinker- und Trinkerinnengeschichten und Entzugsversuche ihrer Kollegen und Kolleginnen, die Jamison einflicht: von Raymond Carver, Charles Jackson, David Foster Wallace oder John Berryman, von Jean Rhys, Margerite Duras, Billy Holliday oder Amy Winehouse. Nur ansatzweise gelingt es Jamison dabei, den Mythos des trinkenden Genies zu entzaubern, den des Alkohols als kreativen Treibstoff. Das Verhältnis von Schreiben und Trinken, von dem einen Stoff, dem kaputtmachenden Alkohol, als Stoff für die Literatur bleibt ambivalent-prekär.

Auch Wallace begriff den Kosmos der Genesung und der Selbsthilfegruppen schnell als „literarische Chance“

Als Charles Jacksons Roman übers Trinken, „Das verlorene Wochenende“, 1944 veröffentlicht wurde, war Jackson fast ein Jahrzehnt nüchtern. Sein Buch war enorm erfolgreich und stellte alles in den Schatten, was Jackson danach noch schreiben sollte. Der Erfolg verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass das Trinken hier einfach nur geschah, es ohne Überbau war, geschweige denn einem kreativen – und dieser Erfolg wiederum stürzte den Kollegen Malcolm Lowry in eine tiefe Krise. Jackson war Lowry mit dem Thema zuvor gekommen. Dessen große Alkoholikerstudie, der Roman „Unter dem Vulkan“, der 1947 erschien, wirkte nun epigonal. Zu offensichtlich war, glaubte Lowry, wie er in der Figur des Konsuls „seine größte Schwäche...zu seiner größten Stärke“ machen wollte – und doch wurde auch sein Roman begeistert aufgenommen. Was Lowry wenig half: Er verfiel noch mehr dem Alkohol und schrieb nie mehr so etwas Gutes wie „Unter dem Vulkan“.

Aber dann ist da auch wieder Marguerite Duras, die Jamsion mit den Worten zitiert: „Die Illusion ist total: Was sie sagen, hat noch nie jemand gesagt. Doch der Alkohol schafft nichts von Dauer. Das ist Luft“. Und auch mit dem David-Foster-Wallace-Biografen D.T. Max ist Leslie Jamison einer Meinung, dass Wallace den Kosmos der Genesung und der Selbsthilfegruppen schnell als „literarische Chance“ begriff.

"Die Klarheit" wurde von vielen geschrieben

„Unendlicher Spaß“, Wallaces Meisterwerk, las sie wie „ein Selbsthilfeprogramm“ (...), täglich 50 Seiten, „egal, ob ich Lust drauf hatte oder nicht“. Am Ende fieberte sie mit dem Helden, auf dass dieser nüchtern bleibe: „Ich war dankbar dafür, dass sich meine Begehrlichkeiten hinsichtlich des erzählerischen Fortgangs auf die Genesung richteten und nicht auf den Rückfall.“

„Die Klarheit“ erinnert an vielen Stellen über die großen Literaturalkoholiker an eine literaturwissenschaftliche Studie (tatsächlich hat Jamison, die an der Columbia University in New York lehrt, ihre Dissertation über Suchterzählungen verfasst), die schon auch Lust darauf macht, Carver, Rhys, Wallace und all die anderen zu lesen oder wiederzulesen, nüchtern, versteht sich. Aber auch politisch positioniert sich Jamison eindeutig, reflektiert sie doch stets den zweifelhaften gesellschaftlichen Umgang mit dem Alkoholismus in den USA. Die Süchtigen sind mehr Täter denn Opfer, werden kriminalisiert, hier geht es um „Umerziehung“. Zudem wird der Alkoholismus (wie andere Süchte) trotz anderslautender Zahlen gern Minderheiten zugeschrieben, um sie zusätzlich zu diskriminieren.

Die Crux des Buchs ist, dass es am stärksten funkelt, wenn Jamison sich von ihrer eigenen Geschichte löst. Aber zum einen wollte sie nichts anderes, darauf weist sie in ihrer Danksagung hin, als ein Buch zu schreiben, „das wie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker funktioniert“. Eine gewisse Langweile, Langatmigkeit gehört mit zum Programm. Das Trinken hat am Ende nichts Heroisches, sondern macht leer, kaputt, krank, bleibt aber ein beständiger Reiz. Zum anderen gibt es da die Geschichten der vielen Prominenten wie Nicht-Prominenten. Und diese gehörten entscheidend zur Therapie von Jamison und beförderten ihre Genesung.

Leslie Jamison: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Hanser Berlin, Berlin 2018. 637 Seiten, 28 €.

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