Rushdie-Adaption im Heimathafen: Traurigkeit in Dosen
Bannende 90 Minuten: Salman Rushdies „Harun und das Meer der Geschichten“ als Live-Graphic-Novel im Heimathafen Neukölln.
Es war einmal eine traurige Stadt. In ihrem Norden standen mächtige Fabriken, in denen die Traurigkeit produziert, verpackt und in alle Welt geschickt wurde. Der Name dieser supermelancholischen Metropole war – nein, nicht Berlin. Sie hatte gar keinen. Der war vor lauter Traurigkeit in Vergessenheit geraten.
Hier also, in der Tristesse-Kapitale irgendwo im Lande Alifbay, siedelt der Schriftsteller Salman Rushdie seinen Kinder- und Jugendroman „Harun und das Meer der Geschichten“ an. Im Studio des Heimathafens Neukölln bringt Regisseurin Nicole Oder Rushdies Roman jetzt als Live-Graphic-Novel auf die Bühne. Es schadet nicht, im Hinterkopf zu behalten, dass Rushdie seinen Text im Exil verfassen musste, nachdem der iranische Zampano Ajatollah Khomeini wegen der „Satanischen Verse“ eine Fatwa über ihn verhängt hatte.
Am Overhead-Projektor sitzt die Zeichnerin Bente Theuvsen und legt Folien auf, die an die Rückwand strahlen. Bilder einer anskizzierten Stadt zum Beispiel, die sie mit energischen Strichen umwölkt. Ein großer Wiedehopf, den sie mit dem Tuscheschwamm entstehen lässt. Ein schwarzes Wachsmaluniversum, aus dem sie den Mond Kahani auskratzt.
Vater und Tochter statt Vater und Sohn
Oder und Theuvsen sind bereits ein erprobtes Team, sie haben zuvor die Fluchtgeschichten „Ultima Ratio“ und „Human Traffic“ am Heimathafen erarbeitet. Was aber nicht bedeutet, dass hier einfach ein ästhetisches Konzept in Serie ginge. Gerade im Falle der Rushdie-Adaption öffnen die Zeichnungen im kleinen Studio des Hauses Fantasieräume, die das zentrale Thema des Autors spiegeln: die überlebensnotwendige Kraft der Erzählung.
In Alifbay lebt Raschid Khalifa, der sein Geld mit Geschichten verdient. Man nennt ihn den „Schah von Bla“. Nachdem Khalifa jedoch von seiner Frau verlassen wurde und er mit dem gemeinsamen Sohn Harun zurückbleibt, fällt ihm nichts mehr ein. Die Fantasie ist versiegt.
Aus Vater und Sohn macht Regisseurin Oder Vater und Tochter, gespielt von Tanya Erartsin und Alexander Ebeert, was gut aufgeht. Sie heißt, leicht abgewandelt, Haroun, ein Rollergirl mit Vorliebe für Videospiele, und macht sich zunehmend Sorgen um Papas geistige Dürre. Zumal eines Nachts ein Wasser-Dschinn auftaucht, um den Erzählwasserhahn abzumontieren. Angeblich hat der Vater sein Abo gekündigt. Beschwerden über diesen Vorgang nimmt allerdings nur das Walross entgegen, der Oberkontrolleur der Stadt Gup City.
Sprache der Netflix-Generation
Haroun begibt sich auf eine mäandernde Odyssee, in der entführte Prinzessinnen und ein verdreckter Ozean der Geschichten, dessen Erzählungen umgekippt sind, eine Rolle spielen. Tragödien werden plötzlich unfreiwillig komisch, da braucht’s ein Großreinemachen.
Auf der Grundlage der Bühnenadaption von Tim Supple und David Tushingham setzt Nicole Oder „Haroun und das Meer der Geschichten“ in durchaus bannenden 90 Minuten in Szene, sprachlich an die Netflix-Generation angepasst. Die Zwischentöne dieser Fabel gehen darüber dennoch nicht verloren. Bei aller Poesie – und Verwandtschaft mit Werken wie Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ – ist Rushdies Roman eben auch eine politische Erzählung über den Widerstand gegen die repressive Kleingeistigkeit. Und die ist bekanntlich ein zeitloses Problem.
Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, 24.+25.11., 1.,3., 12.+13.12., 19.30 Uhr
Patrick Wildermann