Poesiefestival Berlin: Tito ist nicht Stalin
Dichter aus aller Welt diskutieren beim Poesiefestival Berlin über ihren Begriff von Heimat und Exil. Und eine Fotoausstellung versucht die Frage zu beantworten, wozu Lyrik da ist.
Beim Essen, erzählt Michael Krüger in einem Prosagedicht, habe sein Großvater das Glasauge herausgenommen und neben den Teller gelegt. Setze man es umgekehrt ein, so der Großvater, könne man nach innen schauen, dorthin, wo die Gedanken sich befinden. Der Großvater, ein Landwirt in Sachsen-Anhalt, habe auch hundert Vogelstimmen voneinander unterscheiden können. Der Enkel erinnert sich an Braunkehlchen, „die in der Hecke Wache halten“.
Mit seiner Lesung im Rahmen des Poesiefestivals gab Krüger eine erste Antwort auf die Frage, was Heimat sein kann. „Home – Exit/Home“ hat der mazedonische Dichter Nikola Madzirov die von ihm kuratierte Veranstaltungsreihe genannt und dafür an fünf Abenden jeweils zwei Dichter oder Dichterinnen eingeladen. Zusammen mit Krüger trat Durs Grünbein auf. Das knapp einstündige Gespräch der beiden ersetzte manches dreitägige Kolloquium, so umfassend und zupackend widmeten sie sich dem Thema, blieben dabei aber äußerst unterhaltsam.
Dabei deutete sich in den von ihnen vorgetragenen Gedichten durchaus eine jeweils eigene Vorstellung an, was Heimat ist: für Krüger die Kindheit und das Umfeld, in das man hineingeboren wird, die Herkunft also, für Grünbein dagegen eher die Historie. Der gebürtige Dresdner trug ein Gedicht über die Stadt an der Elbe vor, in dem erst ein Hochwasserereignis aus den zwanziger Jahren evoziert wird und in dem später dann die „Hakenkreuzfahnen im Sommerwind“ flattern. Es sind weniger individuelle als kollektive Erinnerungssplitter, die hier das Bewusstsein von Heimat bestimmen.
Überhaupt sei Heimat eine Frage der Erinnerung, deswegen, so wandelte Grünbein einen Ausspruch Jean Pauls ab, sei Heimat das Paradies, aus dem niemand vertrieben werden könne. Gleichwohl kam bald die Frage auf, ob in Zeiten der Globalisierung, wo die Welt immer ähnlicher werde und die Menschen mobiler, nicht eine Austauschbarkeit und Entleerung des Heimatbegriffs stattfinde, oder ob die gegenwärtige Ortlosigkeit vielmehr das Bedürfnis nach einer festen Heimat immer stärker werden lasse.
Für den Polen Adam Zagajewski und den Südafrikaner Breyten Breytenbach war die Vorstellung, nur eine einzige Heimat zu haben, ohnehin abwegig, sie sprachen von Heimaten im Plural. Beide hatten einst ihre Länder verlassen müssen und waren nach Paris ins Exil gegangen. Auch Tomaz Salamun aus Slowenien, der zusammen mit Ilya Kaminski auftrat, hatte Paris in den siebziger Jahren als Zuflucht gewählt. Dort beschied ihm allerdings der große Czeslaw Milosz: „Junger Mann, Sie sind zu alt, um die Sprache zu wechseln. Außerdem ist Tito nicht Stalin – gehen Sie zurück nach Slowenien!“
Das habe er schließlich getan, und es sei sein großes Glück gewesen. Fortan habe er nicht mehr als Herausgeber oder Journalist arbeiten können. Gerade das habe ihm seine dichterische Freiheit garantiert: „Halten Sie sich fern von der Macht!“, gab er seinem jüngeren Kollegen Kaminsky als Rat mit auf den Weg. Nicht zufällig hatte der 1977 in der Ukraine geborene und heute in den USA lebende Kaminsky da schon ein Langgedicht über Ossip Mandelstam und seinen Tod im Lager vorgetragen.
Wir Dichter haben viele Väter, ob Mandelstam oder Milosz, seit 5000 Jahren, sagte Salamun. Da lag der Gedanke nahe, dass Sprache die eigentliche Heimat nicht nur der Dichter ist. Aber dieser Gedanke schien vor allem Krüger zu offensichtlich. Grünbein verwahrte sich zudem gegen eine „sentimentalische Konstruktion von Heimat“: So etwas münde schnell in den Kitsch. Auch Heimweh schien ihm als Gegenwartsflucht verdächtig. Bei aller Geschichtsversessenheit vergaß Grünbein nicht das Heute, seine Heimat Berlin, „Berlin das Ungetüm“, mit dem er über Jahre gehadert habe: „Die Erde hat hier lang genug gebebt.“ Jetzt kann man ankommen. Tobias Lehmkuhl
Heute Donnerstag um 18.30 Uhr beschließen Ishion Hutchinson aus Jamaika und Valzhyna Mort aus Weißrussland die Reihe. (AdK, Hanseatenweg).
Andreas Schäfer über die Fotoausstellung "Wozu Poesie?"
Es gibt diese Fragen: „Ist das (nicht) autobiografisch?“ Oder: „Kann man (denn) davon leben?“ Oder: „Wozu (eigentlich heute noch) Poesie?“ Fragen, die beim Betroffenen vielleicht eine unangenehme Erklärungsnot auslösen, weil mit ihnen ein bestimmter, abfälliger Unterton verbunden ist, die aber doch interessant sind, weil sie dazu zwingen, über die eigene Tätigkeit nachzudenken. In der Ausstellung „Wozu Poesie?“, die im Rahmen des Poesiefestivals in der Akademie der Künste zu sehen ist, geht es weniger um das Leiden an der Arroganz der anderen als um den staunenden Blick auf das eigene Tun. „Poesie ist die Urkunst der Menschheit und entwickelte sich als sinnstiftendes Element zwischen Musik und Tanz“, schreibt Thomas Wohlfahrt, der Leiter des Festivals im Katalog. Gerade weil sie kaum Marktwerk habe, erlebe Dichtung „jetzt eine besondere Aufmerksamkeit“.
Inspiriert von einer Installation des weißrussischen Künstlers Sergey Shabohin, bat er 47 Dichter aus ebenso vielen Ländern um eine kurze Antwort. Der Reiz besteht nicht zuletzt im Ort, an dem die Dichter ihre Sätze präsentieren – auf einem Pappschild, das sie vor einem Gebäude hochhalten, das für sie mit dem Begriff Heimat verbunden ist. Über dem Kopf eine Maske wie ein Terrorist. Auf wirkungsvolle Weise wird so das dichterische Wort in einen gesellschaftlichen Kontext gesetzt und gleichzeitig die Rolle des Dichters thematisiert. Die Ausstellung besteht aus unscheinbar wirkenden Fotos, auf denen ein gesichtsloser Mensch eine Pappe in die Höhe reckt, aber wie bei einem Gedicht braucht man Zeit, um das Wechselspiel zwischen den Ebenen ganz zu erfassen. „Hör gut zu. Die Wahrheit ist zu leise, der Verstand kann ihr nicht antworten“, heißt es bei Teresa Colom aus Andorra. Sie steht dabei auf einem Pfad in den Pyrenäen. Ein ganz anderer Ton herrscht bei Arian Leke aus Albanien zwischen Wort und Hintergrund. „Poesie ist nicht ernsthaft gesundheitsschädigend ...“ Dahinter sieht man die monströse Pyramide von Tirana, dem ehemaligen Enver-Hodscha-Museum. Die einen (Senadin Musabegovic) sprechen das Naheliegende simpel aus: „Indem Poesie sichtbar macht, offenbart sie das Unsichtbare.
Andere setzen ein raffiniertes Wahrnehmungsspiel in Gang. „Nichts zu sehen“, heißt es bei Maria Vilkoviskaya aus Kasachstan. Dazu sieht man eine öde Fläche und dahinter die Bauruinen einer Trabantenstadt. Sie selbst steht auf einem entsorgten Lkw-Reifen und hat sich große Knöpfe als Augen auf die rote Gesichtsmaske genäht. Andreas Schäfer
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