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Kultur: Wo immer du bist, du kannst nicht fremd sein

Ein poetischer Philosoph. Zum Tod des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz

Er war der letzte große Metaphysiker der europäischen Dichtung – und so fast ein Anachronismus. Ein Katholik, aber kein Kirchenmann. Ein Moralist in höherem Auftrag, aber kein Dogmatiker. „Jeder Schriftsteller ist in einen Kampf gegen die Dekadenz verwickelt“, erklärte Czeslaw Milosz vor vier Jahren im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Und als Dichter versuche ich dem Trend zum Nihilismus zu widerstehen.“

Nur zu gut verstand er den Vorwurf, dass Religion über Jahrhunderte als Opium für das Volk gedient hatte. Aber zugleich erkannte er in der Verachtung allen Glaubens die nicht minder verhängnisvolle Signatur der Gegenwart. Gott war für ihn keine Erfahrung, für die man einfach weit genug die Sinne öffnen musste. Er betrachtete ihn als Denknotwendigkeit, um – mit aller Bescheidenheit – überhaupt von Wahrheit reden zu können, und damit wiederum war er erstaunlich modern. Im Jahr 2001 veröffentlichte er im Krakauer „Tygodnik Powszechny“ (Allgemeine Wochenzeitung), dem meinungsführenden katholischen Blatt Polens, einen „Theologischen Traktat“ in lyrischer Form, der die Summe seines spirituellen Lebens zieht (deutsch im Heft 6/2003 der Zeitschrift „Sinn und Form“).

„Einen solchen Traktat würde ein junger Mann nicht schreiben“, gestand er darin. „Doch glaube ich nicht, dass er von Todesfurcht diktiert ist./(…)/Und gerade die Dichtung/mit ihrem Verhalten eines aufgescheuchten Vogels,/der gegen die für ihn unsichtbare Glasscheibe prallt, bezeugt,/dass wir nicht leben können in einem Fantasiegebilde./Wenn doch die Wirklichkeit in unsere Rede zurückkehrte./Das heißt der Sinn, der nicht möglich ist ohne den absoluten Bezugspunkt.“ In seinen Gedichten bewegte sich Milosz wie jener Vogel durch die Welt, gefangen im Irdischen, doch immer an der Schwelle zur Transzendenz und deren physischem Widerschein.

Zu den Schlüsselbegriffen seines Denkens gehören Ekstase, Verwandlung und Verzauberung, Wörter, die kaum verraten, wie sehr sie den Erfahrungen mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts abgerungen waren: dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, dem er als Mann des Widerstands im deutsch besetzten Warschau begegnete – und dem Stalinismus, mit dem er 1953 in seiner Essaysammlung „Verführtes Denken“ abrechnete, nachdem er selbst eine Zeitlang mit einem humanen Sozialismus geliebäugelt hatte.

Das Buch machte ihn schlagartig bekannt. Doch weder in Polen, wo seine Bücher erst nach der Verleihung des Literaturnobelpreises 1980 verlegt wurden, noch in seiner damaligen Exilheimat Frankreich, machte er sich mit seinem Antikommunismus Freunde. Bis auf Albert Camus, mit dem er herzlichen Umgang pflegte, schnitten ihn die Pariser Intellektuellen, und noch Anfang der siebziger Jahre hielt es Pablo Neruda für nötig, sich öffentlich von ihm loszusagen.

Als Czeslaw Milosz im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2000, mit dem Schwerpunkt Polen, 89-jährig noch einmal nach Berlin kam und im Literarischen Colloquium eine denkwürdige Lesung aus seinen Miniaturgeschichten „Hündchen am Wegesrand“ – wie sein gesamtes Werk im Hanser Verlag erschienen – gab, kämpfte er schon mit den Malaisen des Alters. Auf dem einen Ohr fast taub und beim Gehen auf einen Stock gestützt, sah er sich halb verzweifelt, halb belustigt zu, wie er einerseits dahinschwand, andererseits sich selbst ähnlicher wurde: ein hellwacher Geist, der die Dämmerung hereinbrechen sah, die er zuvor nur in seinen Versen beschworen hatte.

„Wo immer du bist, du kannst nicht fremd sein“, schien er sich wie in seinem 1961 in Kalifornien entstandenen Gedicht „Auf unserer Erde“ zu sagen: in keinem Land, in keinem Lebensalter, in keinem Seelenzustand. Schon ein Jahr zuvor, in „Was bedeutet“, hatte er sich mit den Wechselfällen der eigenen Geschichte versöhnt: „Er weiß nicht, dass er leuchtet/Er weiß nicht, dass er fliegt/Er weiß nicht, dass er der und kein anderer ist.//Und immer öfter mit offenem Mund,/Mit der verlöschenden Zigarette Gauloise,/Beim Glas Rotwein/Denke ich, was es bedeutet, der und kein anderer zu sein.//Genauso war es, als ich zwanzig Jahre alt war. / Aber damals gab es die Hoffnung, dass ich alles sein würde,/Vielleicht sogar ein Falter und eine Amsel, durch Zauberspruch.“

Miloszs litauische Zeit scheint hier auf, eine paradiesische Kindheitsepoche, die er in seinem 1955 erschienenen Roman „Das Tal der Issa“ evoziert. Das stark autobiografische Buch ist Miloszs zugänglichstes Werk, obwohl er sich mehrfach über das Schreiben wie das Lesen von Romanen abfällig geäußert hat. Er wollte Dichter sein, und tatsächlich findet man das Konzentrat seines Universums nur in seiner stets um Klarheit bemühten Lyrik. Nicht zuletzt deshalb nahm er schnell Abstand von Metaphern. „Metaphern schienen ihm unbescheiden“, heißt es in „Gustl, der Verzauberte“, einer Variation auf eines seiner Lieblingsbücher, Selma Lagerlöfs „Nils Holgerson“: „Wie beneidete er die, die mit einem Strich einen Baum zeichnen können!“ Und er entfernte sich – vor allem durch die Begegnung mit der Lyrik von Walt Whitman – von Reimschemata und Strophen

Miloszs theoretische Bezugspunkte sind dabei erstaunlich konstant geblieben. Neben seinem Dichteronkel Oscar Milosz und der Philosophin Simone Weil unterhielt er eine starke Beziehung zu Mystikern wie Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg. Sie haben auch sein Theodizee-Verständnis geprägt: „Wenn wir uns über die Erde als den Vorhof der Hölle beklagen,/lasst uns bedenken, dass es eine vollkommene Hölle geben könnte/ohne jeglichen Strahl von Güte und Schönheit.“ Milosz, der am Samstag mit 93 Jahren in Krakau gestorben ist, leuchtete mit seiner eigenen Sonne.

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