Corinna Kirchhoff und Constanze Becker im Interview: „Theater sollte dem Zeitgeist widersprechen“
Corinna Kirchhoff und Constanze Becker wurden in Berlin zu großen Bühnenstars. Jetzt kehren sie zurück, ans Berliner Ensemble. Ein Gespräch über Pläne und Neuanfänge.
Mit Oliver Reese, dem neuen Intendanten des Berliner Ensembles, kommen auch zwei Schauspielerinnen aus Frankfurt nach Berlin zurück. Constanze Becker war von 2006 bis 2009 am Deutschen Theater engagiert und glänzte hier unter anderem als Klytaimnestra in Michael Thalheimers „Orestie“. Corinna Kirchhoffs Bande reichen noch weiter zurück. Sie debütierte 1983 an der Schaubühne in Peter Steins legendären „Drei Schwestern“. Im Endprobenstress für den großen Spielzeitauftakt am Brecht-Platz haben sich die beiden Zeit für ein Gespräch genommen, das zwischen Kartons voller Computer stattfindet.
Frau Becker, Frau Kirchhoff, ein Schlagwort der neuen Intendanz am Berliner Ensemble lautet „Gegenwart“. Was macht für Sie gegenwärtiges Theater aus?
KIRCHHOFF: Es beschränkt sich nicht auf eine vordergründige Aktualisierung. Das halte ich für ein Missverständnis.
BECKER: Die Frage ist genau so schwer zu beantworten wie die, was „neu“ meint. Auch das steht ja auf unseren Plakaten. Es gibt so viele unterschiedliche Formen von neuen Stücken. Textflächen, Stücke, die mit sehr wenig Text auskommen, andere, die performativ sind.
KIRCHHOFF: Für mich stach Reeses Ankündigung hervor, ihn interessiere der direkte Kontakt zwischen Autor und Schauspieler. Er schließt erstmal die Regieposition aus, oder marginalisiert sie. Was das jetzt praktisch bedeutet, weiß ich nicht. Ich finde, dass sowohl dem Text, als auch der Bedeutung und der Form, die er transportiert, eine Autorität zurückgegeben gehört. Ebenso dem Schauspieler, der das Zentrum des Theaters ist.
Wie aktuell wird denn die Deutung des „Caligula“ von Camus, den Sie zur Eröffnung spielen, Frau Becker?
BECKER: Es wird immer jemanden geben, der glaubt, die Welt beherrschen zu können. Natürlich fallen einem dazu aktuelle Beispiele ein. Trotzdem vermeiden wir direkte Anspielungen, mit bestimmten Frisuren zum Beispiel. Die Parallelen sind sowieso offensichtlich. „Caligula“ ist kein Psychogramm eines Gewaltherrschers. Es geht um einen philosophischen Ansatz, der in der Praxis dilettantische Nachahmer findet. Weil die Idee von Weltherrschaft in ihrer Absolutheit überhaupt nicht realisiert werden kann.
Welche Rolle spielen Sie in Arne Lygres „Nichts von mir“, Frau Kirchhoff?
KIRCHHOFF: Die Produktion ist ein Ensemblestück. Keiner ist mehr Protagonist als der andere. Es geht um das Narrativ von einem Liebespaar, das versucht, sich aus seiner Vergangenheit heraus zu schneiden. Es wird ein Mann verlassen, ein Kind, Erinnerungen werden weggeschnitten für eine Obsession, die in den gemeinsamen Tod führt. Dafür haben wir eine Art fugische Komposition miteinander entwickelt. Ich habe so etwas noch nie gemacht, noch nie gesehen.
Welche Autorinnen und Autoren der Gegenwart lösen ein, was Sie im Theater erzählen möchten?
BECKER: Ich habe soviel Gegenwartsliteratur ja noch gar nicht gemacht. Das ist etwas, was für mich hier neu sein wird. „Die Netzwelt“ von Jennifer Haley fand ich toll, die ich in Frankfurt gesehen habe. Das ist nun wieder ein klassisches Dialogstück, das Menschen in unserer Zeit mit heutigen Problemen zeigt.
Ist das altmodisch, ein Stück mit Dialogen, echten Menschen?
KIRCHHOFF: Der Amerikaner Tracy Letts, von dem wir „Eine Familie“ spielen und dessen Stück „Eine Frau“ im November Premiere haben wird, geht für mich zum Beispiel in die Richtung well made. Mit furchtbar vielen Neurosen, kleinen sexuellen Katastrophen. Mir bedient das zu sehr eine Ebene. Es gibt keine Metaebene, keine Mehrschichtigkeit, kein Geheimnis. Nichts gegen dieses Stück. Aber ich hätte schon Sehnsucht nach etwas anderem, das gebe ich offen zu.
BECKER: Letts kommt aus dieser amerikanischen Tradition, die sehr filmisch ist. Wir haben eine experimentellere hier in Europa, in anderen europäischen Ländern noch mehr als in Deutschland.
KIRCHHOFF: Ich möchte ein Bedürfnis formulieren. Vor 20, 30 Jahren hat Botho Strauß dramatische Dialoge geschrieben, in denen es um Psychologie ging, aber gleichermaßen auch um Durchbrüche aus völlig anderen Ebenen. Aus philosophischen, mythologischen, oder völlig monströsen albtraumartigen Ebenen. Das war viel, viel aufregender!
Psychologischer Realismus ist Ihnen also nicht genug.
KIRCHHOFF: Das interessiert mich gar nicht! Die großen Stücke unserer Tradition sind niemals nur psychologisch! Das sind Ästhetiken, die kommen aus dem Fernsehen, aus dem Kintopp. Das Theater hat immer auch andere Ebenen dabei. Sonst produziert es Seifenopern.
BECKER: Menschheitsgedanken und -probleme so groß und monolithisch hinzustellen, wie das etwa Michael Thalheimer mit antiken Stoffen macht, das ist tatsächlich nur im Theater möglich. Warum spielen wir die alten Stücke noch? Weil sie mehr bieten als reine Erklärbarkeit.
KIRCHHOFF: Es gibt eine Ausnahme, das ist Joel Pommerats „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. Da treten zum Beispiel Tote auf. Oder es wird eine Liebesgeschichte erzählt durch eine Frau, die alzheimerkrank ist und die – weil sie vergisst, wo sie herkommt und mit wem sie verheiratet ist – immer wieder neu entdeckt, staunend, was und wen sie liebt. Das finde ich hinreißend. Und überhaupt nicht platt oder kitschig.
Auch in der Literatur oder im Film hat es immer formale Experimente gegeben, aber das Geschichtenerzählen war nie verpönt. Warum hat sich gerade das Theater so dem Postdramatischen ergeben?
KIRCHHOFF: Darüber kann man sich den Kopf zerbrechen. Ein flacher Erklärungsgrund ist, dass das Theater sehr infiziert ist vom letzten Schrei. Und das ist einer Zeit, die funktioniert über Zeichen, die sich schnell lesen und konsumieren lassen. Sich dem als subventionierte Kunstform so zu unterwerfen, ist arm. Das Theater hätte ja die Möglichkeit, fremder zum Zeitgeist zu stehen, zu widersprechen. Und zwar nicht mit lauten, krachenden Protestgesten, sondern durch eine andere Sorgfalt, eine andere Würde, einen tieferen Blick in die Menschen.
BECKER: Theater ist und war immer dem Zeitgeist unterworfen. Es gibt aber schon ein Bedürfnis nach dem Einfachen, was Theater ausmacht. Wir spielen seit 2008 „Onkel Wanja“ von Jürgen Gosch am Deutschen Theater, wo es nur um die Menschen geht, ohne Brimborium, und die Leute stürmen immer noch rein. Ich sehe mich als Schauspielerin auch nicht als Entertainerin für interessante Abende performativer Art, sondern ich erzähle Geschichten über Menschen.
Was ist mit Brecht, steht der eher quer zum Zeitgeist, oder passt er gerade?
BECKER: In der Entwicklung des Theaters finde ich Brecht wahnsinnig wichtig, aber es ist häufig schwierig, ihn auf die Bühne zu bringen. Entweder wird es wirklich das Lehrstück, was man auch nicht mehr richtig aushält, oder man überlädt ihn mit Einfällen, was dem Ganzen oft auch nicht zuträglich ist.
KIRCHHOFF: Man könnte sagen, dass eine Brechtsche Kapitalismuskritik heute gebraucht wird. Aber mir sind die Stücke zu stark ideologisiert, die Figurenzeichnung ist zu sehr ins Schema gesetzt.
Was hat Sie beide bewogen, sich hier fest ins Ensemble zu begeben?
BECKER: Ich glaube ans Ensembletheater. Weil es ein anderes Arbeiten ermöglichst als beim Film. Ich mag die Zeit am Theater, in der man sich auseinander setzen kann mit Stoffen, den Prozess, die Entwicklung auch in den Vorstellungen noch. Das entspricht mir sehr.
KIRCHHOFF: Ich glaube auch zutiefst ans Ensemble.
Obwohl das ein dehnbarer Begriff geworden ist. Manche halten auch durchreisende Gastspieltruppen für ein Ensemble.
KIRCHHOFF: Ganz furchtbar, solche Ensemble-Aufweichungen, auch Genre-Aufweichungen müssen unbedingt verhindert werden. Die zerstören das Theater.
Seit einigen Jahren streitet das Bündnis „Ensemble Netzwerk“ für mehr Rechte von Schauspielern. Haben Sie am Berliner Ensemble genug Mitsprache?
KIRCHHOFF: Ich komme ja aus dem richtigen Mitbestimmungstheater von Peter Stein an der Schaubühne, das war natürlich völlig anders. Da wurde niemand engagiert, vor allem kein Regisseur, ohne dass das Ensemble darüber abgestimmt hatte, es wurden auch keine Stücke gemacht, die kein Interesse im Ensemble fanden. Hier ist es, wenn man so will, ein konventionelles Modell. Aber ich finde, dass Reese Teilhabe ermöglicht. Ungeachtet dessen begrüße ich dieses Netzwerk, und ich denke auch, dass es Intendanten in Schach hält. So, jetzt muss ich zur Probe!
„Caligula“: Premiere am Do, 21. 9., 19.30 (Großes Haus). „Nichts von mir“: Premiere am Fr, 22. 9., 20 Uhr (Kleines Haus).
Patrick Wildermann
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