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Gosch
© Baltzer

Theater: Fegefeuer der Einsamkeiten

Großartig und schwerblütig: Jürgen Goschs "Onkel Wanja“ am Deutschen Theater Berlin.

Große Abende bekommt man nicht geschenkt. Man muss sie sich – kein schönes Wort! – erarbeiten. Das Theater des Jürgen Gosch stellt an den Zuschauer hohe Anforderungen. Es atmet protestantische Strenge, sein Tempo ist schleppend wie ein Kirchenchoral, sein Gestus von aufreizender Genauigkeit, wenn nicht penibel. Goschs anhaltender Erfolg lässt sich damit auch recht gut erklären. Die Inszenierungen des 64-Jährigen schaffen etwas Seltenes – eine Übereinkunft von Text, Schauspieler und Regie.

Gosch holt das Publikum mit hinein. In diese Bühnenkästen, die ihm Johannes Schütz mit schöner Regelmäßigkeit baut. Eine Art abstrakter Realismus. Hier, beim „Onkel Wanja“ im Deutschen Theater, ist es ein Kasten von relativ geringer Tiefe, mit braun-goldenem Plüsch ausgeschlagen. Angestoßener Stoff, aber nicht gemütlich. Eine gähnend leere Zelle, hinten eine Sitzbank mit Samowar und Trinkgeschirr, mehr nicht. Eine Höllenvision: Alle Schauspieler befinden sich zu jeder Zeit auf dieser Bühne, keine Auf- oder Abgänge, keine Türen. Wer nicht spielt, lehnt links oder rechts an der Wand, sichtbar-unsichtbar, in Stand-by-Position. Humanes Inventar.

Dies ist eine klare Versuchsanordnung, oder auch eine Versuchungsanordnung, wenn nachher im Kabinett des Dr. Tschechow Verliebtheit und Lust verhandelt werden. (Gosch ist kein sinnlicher Regisseur, körperliche Nähe und sexuelles Verlangen enden meist in Verkrampfung und Bestrafung, eben ein Protestant.) Und um den Charakter der Vivisektion noch zu betonen, taucht ein schweres Scheinwerfergeschütz hinten im Parkett Bühne und Zuschauerraum in helles Licht, wirft im Schaukasten lange Schauspielerschatten. Das Licht sagt: Es gibt kein Entrinnen. Die Situation ist offen und intim wie auf einer Probe. Goschs Schauspieler, die Johannes Schütz recht ärmlich und heutig kleidet, wirken splitternackt. Entblößte Seelen.

Ihnen zuzusehen und zu -hören, strengt an. „Onkel Wanja“, im Untertitel heißt das Stück „Szenen aus dem Landleben“, umfasst einen Sommer, einen müßigen, leerlaufenden Sommer, an dessen Ende die Eindringlinge abreisen und die Ordnung unter schwersten emotionalen Verlusten wiederhergestellt ist. „Man muss ein Werk schaffen“, sagt der alte Kunstprofessor beim Abgang; was hätte er da schon vorzuweisen, außer dass er vielleicht ein paar Menschenleben ruiniert hat. Und Wanja und seine Nichte Sonja, die zurückbleiben auf dem Gut, stürzen sich in – Arbeit. Tägliche Kleinarbeit, die einzige Erlösung. Gosch zieht den Schluss ins Christlich-Mystische, man ist in Gorkis „Nachtasyl“ gelandet, endgültig. Wie Ulrich Matthes (Wanja) und Meike Droste (Sonja) dahocken, elend und zerstört, nach dem Strohhalm des landwirtschaftlichen Tagwerks greifen, wie sie sich ein für allemal mit ihrer entsetzlichen Einsamkeit abfinden – das kann einem das Herz zerreißen. Gnadenlos hart. So hat man Tschechow lange nicht gesehen. Nur früher, bei Zadeks „Iwanow“, aber das liegt ewig zurück.

Gosch erlaubt sich kaum Sentimentales. Auch so gut wie keine Komik. Zwischendrin – es dauert dreieinhalb Stunden – kommen immer wieder Phasen, in denen man diesen Abend ablehnen möchte, von Grund auf. Dieser Ernst! Diese verdammte Sinnlosigkeit, warum sich das antun! Wozu trägt der Landarzt Astrow von Jens Harzer einen so blöden großen Märchenschnurrbart? Warum muss Christine Schorn, die alte Kinderfrau, so zum Erbarmen buckeln? Warum brüllt Christian Grashof, der Professor und Sommergast, dieser eingebildete und von sich so eingenommene Kranke, wie der letzte Knallcharge einer missratenen Molière-Komödie? Warum muss der arme, hässliche Landmann Telegin von Bernd Stempel mit seinen roten Haaren und seiner brutalen Brille eine solche Schießbudenfigur abgeben?

Einige Figuren bleiben, das tut weh, auf der Strecke. Bleiben Karikatur. Sie machen Platz für die anderen, die sich tragisch auswachsen. Ulrich Matthes also: So intensiv hat er noch nie gespielt. Wanja altert zwischen dem zweiten und dem dritten Akt um zehn Jahre, und am Ende ist er ein Gespenst. Man muss in seine Augen sehen. Wie er noch nach dem langen Applaus nicht aus der Rolle herausfindet. Mit langem Anlauf, tief verletzt, nie zynisch, stürzt er in den Showdown mit Grashof, als der Verwandte aus der Stadt das Gut verhökern will. In Wanjas fragile Statur schlägt ein solcher Schmerz ein, eine solche Verzweiflung, dass man dem Guten wünscht, er möge den Professor erschießen. Er trifft daneben. Sein ganzes Leben – vorbei. Darum geht es im Kern: Wie ein Leben vergeht, ohne dass man es bemerkt. „Ich bin 47“, schreit Wanja. Ein Todesurteil.

Mitleid, dieses Wort bekommt hier immer mehr Gewicht. Mit-leiden. Ein schwerer Theaterabend, und er wird dann zu einem großen, wenn man nicht selbst jene vierte Wand aufrichtet, die Gosch und sein Ensemble niederreißen. Wenn man erkennt, wie sich die Schauspieler den Text (leicht modernisiert von Angela Schanelec) nach und nach aneignen. Jens Harzer, Gast vom Bayerischen Staatsschauspiel, erledigt diese Arbeit mit aufreizender Eleganz. Sonja liebt den Landarzt rettungslos, Astrow aber ist an einer Affäre (wohl an nicht viel mehr) mit Elena interessiert, der viel zu jungen Frau des Kunstprofessors. Harzer schaut sich selbst beim Spielen zu, beim Ausprobieren; der blöde Schnurrbart wirkt wie eine Tarnung, sonst wäre dieser Astrow wohl allzu attraktiv. Harzer ist auf eine Art abwesend, dass er sofort jedes Gespräch zum Stocken bringt. Vielleicht hat dieser Mann kein Geheimnis, aber er ist eines.

Astrow und Wanja. Zwei Freunde. Zwei Männer, die einmal jung waren. Harzer ist ein Spieler, selbst die Beschäftigung mit dem Landschaftsschutz (Tschechows „Onkel Wanja“ ist wie Ibsens „Ein Volksfeind“ ein frühes Öko-Stück) scheint ihn im Innern nicht sonderlich zu berühren. Astrow hat, als Arzt, eine bessere Überlebenstechnik als Wanja. Es wird ihm auch nicht viel nützen. Die Verrückten sind die Normalen, sagt er. Das bleibt in der Schwebe, so hat man Tschechow am liebsten. Matthes und sein Wanja sagen etwas anderes: Leben heißt Kaputtgehen. Das ist die Zumutung, mit der man bei Gosch fertig werden muss.

Die Landluft wirkt als Wahrheitsdroge. Jede Bewegung, die Elena an der Seite ihres alten Kerls vollführt: eine Verlegenheit, ein Hilfeschrei. Constanze Becker legt in diesem Gefängnis die längsten Wege zurück. Sie ist groß und schön, herausfordernd, und gleich wieder ungelenk, angsterfüllt, von Zweifeln getrieben. Großartig! Ihre weiteren Lebensaussichten, nach dem Geknutsche mit dem Doktor: verhangen. Sie kann nur hoffen auf eine Zeit als junge Witwe. Und wenn Elena der tapferen Sonja, die gar nichts mehr zu erwarten hat, mit großen Schluchzern um den Hals fällt, bietet sich ein seltenes Bild: zwei junge Frauen, die jung sind, die lachen, sich gehen lassen und den Rest vergessen. Nähe, endlich. Kurzes Glück.

Wieder am 20. und 24. Januar sowie am 1., 4. und 7. Februar.

Rüdiger Schaper

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