China im Aufbruch: Der chinesische Traum
Die Volksrepublik China steht vor einem zweiten tiefgreifenden Reformprozess, der das Land verändern wird. Europa sollte China auf diesem Weg begleiten. Ein Gastbeitrag.
Michael Schaefer war von 2007 bis 2013 deutscher Botschafter in China und ist heute Vorstand der BMW-Stiftung
Der neue chinesische Präsident Xi Jinping besucht in diesen Tagen Europa. Neben Brüssel wird er Gespräche in Berlin und Paris führen. Während für China die EU und vor allem Deutschland als größte europäische Wirtschaft strategische Bedeutung besitzen, schwankt Europas Haltung zwischen Angst und Bewunderung. Ersteres ist nicht begründet. Worauf müssen wir uns einstellen, wenn die neue chinesische Regierung vom „chinesischen Traum“ als politisches Ziel spricht?
Sie hat gleich nach Übernahme der Macht vor einem Jahr einige positive wie negative Akzente gesetzt. Einerseits hat sie deutlich gemacht, dass sie die Politik der Öffnung und Reform konsequent fortsetzen will und einschneidende Reformen angekündigt – in der Wirtschafts- und Umweltpolitik, aber auch in Kernbereichen der Gesellschaftspolitik. Andererseits wird im Innern die Kontrolle über das Internet und der Druck auf Regimekritiker verschärft. Und gleichzeitig präsentiert sich China gegenüber seinen Nachbarn, insbesondere im Streit mit Japan um die Diaoyu/Senkaku-Inseln im ostchinesischen Meer, mit einer von vielen als aggressiv empfundenen Entschlossenheit.
Angst vor wirtschaftlichem Rückfall
Wer das politische Handeln der heutigen Machthaber in Peking verstehen will, muss sich erinnern, dass China bereits um 1830 mit einem Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts die größte Wirtschaftsmacht der Welt gewesen ist.
Was folgte, war ein durch Selbst- und Fremdverschuldung verursachter Abstieg des Reichs der Mitte: Opiumkriege, Boxeraufstand, Revolution, japanische Invasion, Bürgerkrieg sowie Mao-Kampagnen nach Gründung der Volksrepublik China. Nach 150 Jahren Abwesenheit von der Weltbühne war China 1978, als Deng Xiaoping seine Reform- und Öffnungspolitik proklamierte, physisch und psychisch am Boden. Allein in den 60er Jahren starben fast 60 Millionen Chinesen an Hunger. Nie wieder Abhängigkeit, nie wieder Demütigung durch fremde Mächte – diese Überzeugung eint heute alle Chinesen. Was dann seit Deng Xiaoping folgte, ist ohne Vorbild in der jüngeren Menschheitsgeschichte.
Die Reformleistungen der letzten Generation stehen auf dem Spiel
China hat erfolgreich den Hunger bekämpft – ohne Hilfe von außen. Hunderte von Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit, der Lebensstandard hat sich für 350 Millionen signifikant verbessert. Moderne Infrastruktur – Autobahnen bis in alle entlegenen Teile des Landes, Hochgeschwindigkeitszüge zwischen allen Metropolen, effiziente Bahnhöfe und Flughäfen in allen neuen Ballungszentren – diese Investitionen haben hervorragende Rahmenbedingungen für die Wirtschaft geschaffen, ganz im Gegensatz zum großen Nachbarn Indien. Und mindestens ebenso wichtig: Man spürt eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung, vor allem bei jungen Menschen, die sagen, dass ihr individueller Freiheitsraum größer ist als jemals zuvor.
Dennoch weiß die neue Führung, dass die Reformleistungen der letzten Generation auf dem Spiel stehen. Warum? Weil die Entwicklung ungleichmäßig, unkoordiniert und nicht nachhaltig war. China läuft Gefahr, Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden. Der chinesische Traum ist für ganz viele Menschen noch sehr weit entfernt. Es leben immer noch ebenso viele Menschen in bitterer Armut wie in moderatem Wohlstand, der Rest dazwischen. Immer mehr Menschen wird klar, dass sie selbst bei stabiler politischer und unverändert dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung zu Lebzeiten nicht an diesem Wohlstand werden teilhaben können. Möglicherweise nicht einmal ihre Kinder. Das schafft Frustration.
Regierung versucht Proteste im Netz zu zensieren
Hinzu kommen als Folge der viel zu schnellen Urbanisierung schwere Belastungen für die Lebensqualität – schlechte Luft, ungenießbares Wasser, mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz oder verstopfte Straßen. Und eine endemische Korruption, die sich als Krebsgeschwür der Gesellschaft erweisen könnte.
Dies äußert sich in einer schnell wachsenden Anzahl von Protesten. Sie sind meist örtlich begrenzt und richten sich noch nicht gegen das politische System, aber ihre Zahl wächst exponentiell. Der junge Mittelstand artikuliert sich zunehmend selbstbewusst in den neuen sozialen Medien, seine Forderungen finden blitzartige Verbreitung. Sie richten sich an die Adresse von Lokal-, Provinz- und Zentralregierungen. Durch diese Netzwerke – es gibt mittlerweile mehr als 600 Millionen Internetbenutzer, also fast die Hälfte der chinesischen Bevölkerung – entsteht eine neue, postdemokratische Form politischer Partizipation. Auch wenn die Regierung versucht, dies durch massive Zensur zu kontrollieren – das Netz ist bereits zu einem gesellschaftlichen Katalysator geworden. Das ist nicht aufzuhalten, zumal China das Netz aus wirtschaftlichen Gründen dringend braucht.
Nachhaltigkeit wird zur zentralen Herausforderung
Allerdings sollte diese wachsende Kritik nicht mit einer Demokratiebewegung nach westlichem Vorbild verwechselt werden. Für eine solche gibt es in China kaum historische, philosophische oder politische Anknüpfungspunkte. Der 2500 Jahre herrschende Konfuzianismus hat ein Ordnungssystem geschaffen, in dem Familie und staatliche Führung die wichtigsten Bezugspunkte sind. Das Individuum mit seinen bei uns aus der Aufklärung hervorgegangenen Rechten ist demgegenüber nachgeordnet. Das dürfte sich mit zunehmendem Wohlstand auch in China ändern, aber nicht über Nacht.
Zur Wahrung der gesellschaftlichen Stabilität im Lande muss die neue Führung innen- und wirtschaftspolitisch in der nächsten Dekade zwei große Reformvorhaben bewältigen: Sie muss erstens den Sprung schaffen von quantitativem zu qualitativem Wachstum. Nachhaltigkeit wird zur zentralen Herausforderung.
Sie muss die Schere zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, den wohlhabenden Ostregionen und dem armen Westen schließen – und gleichzeitig mehr Markt zulassen. Die Privatisierung von Staatsunternehmen und die Liberalisierung des Finanzsektors sind Schlüsselbereiche, die zum Test für den Erfolg der Wirtschaftsreformen werden. Sie muss ökologischen Gesichtspunkten Vorrang einräumen und Vorreiter einer grünen Wirtschaft werden. Wenn sie China von der verlängerten Werkbank der Welt zu einer Innovationsgesellschaft machen will, dann muss sie zu einer weitgehenden Bildungsreform bereit sein, die der individuellen Kreativität mehr Raum gibt.
Um Korruption zu verhindern, muss China Rechtsstaatlichkeit entwickeln
Und sie muss zweitens die Voraussetzungen schaffen für mehr Partizipation und für mehr soziale Gerechtigkeit. Eine stabile gesellschaftliche Entwicklung wird auch in China individuelle Verwirklichung erfordern. Vor allem aber muss die Regierung die Korruption bekämpfen – und dies gegen Kader, die Teil des Problems sind, die aber gleichzeitig für die notwendigen Reformprozesse gebraucht werden. Schlüssel für den Erfolg dieses schier aussichtslosen Kampfes, den sich Präsident Xi dennoch auf die Fahne geschrieben hat, ist die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit. China, ein Land das keine Erfahrung oder Tradition als Rechtsstaat hat, braucht nicht nur gute Gesetze und ausreichend gut ausgebildete Juristen (woran es noch bei weitem fehlt), es braucht vor allem die Unabhängigkeit der Gerichte. Was das bedeutet ist jedem klar: zumindest teilweiser Machtverzicht der Partei. Dies könnte sich als die schwierigste, aber auch wichtigste aller notwendigen Reformen erweisen.
Politische Reformen kommen langsamer voran
Jede einzelne dieser Reformen würde jede Regierung dieser Welt vor eine Riesenaufgabe stellen. Eine Vielzahl solcher Prozesse gleichzeitig zu steuern, ist eine Herkulesaufgabe. Die Regierung von Präsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang ist sich dieser gewaltigen Herausforderung bewusst. Die bereits getroffenen Entscheidungen, die ja als Zehnjahresplan den Weg bis 2023 vorgeben, lassen den Willen zu fundamentalen Reformen erkennen.
Das gilt vor allem für die Wirtschafts- und Finanzpolitik. China scheint sich tatsächlich von seinem auf Billigproduktion und Export basierenden Wachstumsmodell verabschieden und dem Markt größeren Raum einräumen zu wollen. Die globale Wirtschaft wird sich damit abfinden müssen, dass China künftig bewusst weniger Wachstum generieren wird als in der Vergangenheit (2013 lag das Wachstum nur noch bei 7,7 Prozent). Die gute Nachricht für deutsche und andere ausländische Unternehmen ist aber, dass die Regierung sich offenbar entschieden hat, den Binnenmarkt zu liberalisieren: Mehr Marktöffnung, mehr Wettbewerb auch im Finanz- und Dienstleistungssektor, weniger Auflagen bei Investitionen könnten die Folge sein. Auch die Öffnung von Staatsunternehmen für private Investoren wird erwogen. Sie müssten Anlegern Rechenschaft ablegen; das wiederum würde den Spielraum für Korruption mindern.
Bevölkerung fordert Teilhabe am Wirtschaftswachstum
In der Umweltpolitik hat Ministerpräsident Li Keqiang bei der Eröffnung des Nationalen Volkskongresses die Umweltverschmutzung beklagt: „Es ist die rote Ampel der Natur, die vor einer ineffizienten und blinden Entwicklung warnt.“ Er versprach „energische Maßnahmen“.
Weit langsamer werden politische Reformen in Angriff genommen. Gerade weil es den jungen Chinesen mehrheitlich nicht um politische Rechte, um Meinungs- oder Pressefreiheit, sondern um materielle Teilhabe geht, um ein Stück des Wohlstandskuchens, ist nicht nachvollziehbar, warum die zahlenmäßig wenigen Kritiker des Systems von der Partei mit unverhältnismäßig repressiven Mitteln mundtot gemacht werden. Die Kommunistische Partei Chinas zeigt hier eine angesichts der erfolgreichen Entwicklung unverständlich niedrige Toleranzschwelle. Das könnte sich mittelfristig als Hindernis für eine fortgesetzt stabile Entwicklung erweisen.
Interessenpolitik statt Hegemonialstreben
Aber auch hier sind erste Ansätze erkennbar, die über reine Makulatur hinausgehen: die Reform des Registrierungsrechts, das vor allem den Heerscharen der Wanderarbeiter zugutekommen wird, die Abschaffung der Ein-Kind-Politik zumindest, wenn beide Eltern Einzelkinder sind, die Abschaffung der Zwangsarbeit ohne richterlichen Beschluss. Das sind keine Vorboten einer Demokratie, in ihrer Wirkung auf die chinesische Gesellschaft sind sie aber gar nicht zu überschätzen. Außenpolitisch wird China weiter eine knallharte Interessenpolitik betreiben. Sie dient der eigenen stabilen Entwicklung, die mindestens noch zwei Generationen Wachstum erfordert. Außenpolitik wird daher in den nächsten Jahrzehnten Rohstoffsicherungspolitik bleiben und nicht einem von manchen westlichen Analysten behaupteten Hegemonialstreben folgen.
Versöhnung zwischen Japan und China scheint unmöglich
Das Auftreten Chinas in den Territorialkonflikten mit seinen Nachbarn steht dazu nicht im Widerspruch. Ebenso wie die Führung im Inneren die Anerkennung des Ein-Parteien-Systems als rote Linie ansieht, sind nationale Einheit und territoriale Integrität eine solche Linie nach außen. Hätte die japanische Regierung vor zwei Jahren aus Gründen des Wahlkampfs den Status quo der Inseln nicht verändert und sie nicht nationalisiert, hätte Peking ihn von sich aus kaum angetastet. Aber auch in China gibt es eine zunehmend nationalistisch geprägte öffentliche Meinung, die von der Regierung eine harte Haltung gegenüber Japan einfordert. Auch wenn beide Seiten kein Interesse an einem heißen Konflikt haben, ist die Situation potentiell hochgefährlich, eine Eskalation aber beidseitig eher ungewollt.
Eine Lösung des Inselkonflikts ist indes undenkbar ohne Lösung des dahinter schwelenden historischen Konflikts: Japan ist in den Augen Chinas verantwortlich für grauenvolle Massaker wie das von Nanking in den 30er Jahren. Eine Versöhnung hat es zwischen Japan und China nie gegeben, die Regierung Abe in Tokio scheint derzeit eher in die entgegengesetzte Richtung zu streben. Das heizt den aktuellen Konflikt weiter an.
Deutschland und Frankreich als Vorbild der Versöhnung
China sieht Deutschland und Frankreich als Vorbild für einen Versöhnungsprozess. Parallelen gibt es durchaus, sie sollten aber nicht überstrapaziert werden. China hat als das größere und stärkere Land eine große eigene Verantwortung für die regionale Stabilität in Ostasien. In den 50er Jahren war es de Gaulle, der Adenauer die Hand reichte, obwohl Frankreich in der Position der Stärke war. Diese Souveränität wäre der chinesischen Regierung heute zu wünschen. Sie würde sehr dazu beitragen, die kritische Lage im ostchinesischen Meer zu entschärfen und das Ansehen Chinas in der Welt zu verbessern. Hierüber könnten die Gesprächspartner beim Besuch des chinesischen Präsidenten an der Seine und an der Spree nachdenken.
Stabilität und Respekt statt Spielball der Mächtigen
Der „chinesische Traum“ setzt hier an: China will wieder dorthin, wo es im 19. Jahrhundert war. Es will Stabilität in seiner eigenen Gesellschaft, was Partizipation möglichst vieler am Wohlstand bedeutet; und es will Respekt nach außen. Nie wieder will das Reich der Mitte zum Spielball der anderen Mächte werden. Diesem Ziel der Selbstbestimmtheit wird alles andere nachgeordnet.
Die Verwirklichung des chinesischen Traums muss in Europa keine Sorge oder gar Angst auslösen. Aus europäischer Sicht wäre zu wünschen, dass ein starkes China als neue Großmacht im 21. Jahrhundert aktiv dazu beiträgt, globale Herausforderungen zu bewältigen. In diesem Prozess sollte Europa China begleiten.
Der Autor war von 2007 bis 2013 deutscher Botschafter in China und ist heute Vorstand der BMW-Stiftung
Michael Schaefer