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Terézia Mora mit ihrem Roman "Das Ungeheuer".
© dpa

Shortlist Deutscher Buchpreis: Terézia Moras neuer Roman "Das Ungeheuer"

Sie schafft den brutalstmöglichen Zugriff auf die Gegenwart: Terézia Mora mit ihrem grandiosen, für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman "Das Ungeheuer".

Am Anfang, als alles noch in Ordnung ist oder zumindest so aussieht, liegen Darius und Flora in einem Budapester Hotelzimmer. „Womit habe ich dich verdient“, fragt Flora, und Darius antwortet: „Wahrscheinlich warst du ein unartiges Mädchen.“ Er ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie recht er damit hat. Darius Kopp ist wieder da. Jener Mann, „106 Kilo bei 178 cm Körpergröße“, den Terézia Mora für ihren grandiosen, 2009 erschienenen Roman „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ erfunden hat, wird in dem Nachfolger „Das Ungeheuer“, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht, auf eine Höllenfahrt geschickt.

Kopp, von Beruf IT-Techniker, ein Mann, der nur für die Gegenwart lebt und dem der Innenraum seines Automobils sowie regelmäßige Nahrungs- und Sexzufuhr in großen Mengen völlig ausreichend für eine, wenn nicht gelungene, so doch befriedete Existenz erschienen, war in „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ eine Symbolfigur für die diffus-prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Nun ist er am Ende. Flora, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs von Ungarn nach Deutschland gekommen, wo sie sich als Kellnerin und Übersetzerin durchschlug, hat sich das Leben genommen, drei Tage vor ihrem 38. Geburtstag; beide, Kopp und Flora, hatten kurz zuvor ihre Jobs verloren.

Als „Das Ungeheuer“ einsetzt, ist Flora bereits ein knappes Jahr tot. Zehn Monate lang hat Kopp die Wohnung nicht mehr verlassen; der Pizza-Lieferservice hat ihn am Leben erhalten. Nun muss er etwas tun. Zum Beispiel seine Frau begraben: Die Urne mit der Asche steht noch beim Beerdigungsunternehmer.

"Das Ungeheuer" ist ein grafisch zweigeteilter Roman

„Das Ungeheuer“ ist nicht nur sprachlich, sondern auch grafisch ein zweigeteilter Roman: Auf der Mitte jeder Seite verläuft eine horizontale Trennlinie. Im oberen Teil sind wir bei Darius in seiner wortwörtlich rasenden Trauer; der untere Teil bleibt entweder leer oder ist gefüllt mit Notizen, die Darius nach Floras Tod auf deren Computer gefunden und aus dem Ungarischen hat übersetzen lassen und die er nach und nach liest. Das ist in mehrfacher Hinsicht äußerst raffiniert komponiert. Terézia Mora gibt dem Leser zwar eine genaue Anleitung an die Hand, in der die von ihr beabsichtigte Leseabfolge festgelegt ist, doch auch, wenn man davon abweicht, bemerkt man, dass der Darius- und der Flora-Part immer wieder miteinander korrespondieren.

Was die getrennten Passagen verbindet, ist ihre ungeheure Schonungslosigkeit: Oben ist „Das Ungeheuer“ eine road novel, erzählt in einer schon vom Vorgänger bekannten multiperspektivischen Haltung. Erste, zweite, dritte Person Singular wechseln sich bruchlos ab. Das ist so konsequent wie klug: Da ist ein Ich, Darius, das ein offizielles Bild von sich vermitteln und nur so viel zeigen will wie nötig, und da sind ein übergeordnetes Du und Er, die dieses Bild korrigieren. Wir wissen mehr von Darius, als er uns verraten will. Und wir wissen mehr von Flora, als sie Darius jemals von sich verraten hat.

Darius hat seine Frau zwar geliebt, aber nicht als die, die sie war. Floras Notizen, eine Mischung aus Aphorismen, Tagebucheinträgen, Kindheitserinnerungen, Krankheitsbeschreibungen und Selbstbeobachtungen, sind erschütternde Dokumente einer schweren Depression, die Terézia Mora zum einen als individuelle Krankheitsgeschichte stehen lässt, andererseits aber auch als Ausdruck eines pathologischen Gesellschaftszustandes markiert, in dem Selbstoptimierung, Selbstüberforderung, Selbstausbeutung und Selbsthass ineinander übergehen. Die wahre Höflichkeit, schreibt sie einmal, sei es, tauglich zu sein, nützlich. Das stört dann niemanden. Es ist hart, das mitzuverfolgen, und so ist es auch gedacht.

Terézia Mora gelingen fabelhafte Szenen.

Die horizontale Linie auf jeder Seite, das ist die Trennlinie zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Leben und Tod, zwischen Selbsttäuschung und Desillusionierung. Darius rast durch Osteuropa: Ungarn, Albanien, Bulgarien, Georgien, Armenien, zum Schluss Griechenland, immer Floras Asche im Kofferraum, maßlos in seiner Trauer.

Es sind fabelhafte Szenen, die Terézia Mora gelingen: Darius, der im Fieberwahn, nah am Delirium, über die Grenze nach Albanien fährt, an seiner Seite eine albanische Studentin, die ihn zu ihrer Großmutter bringt. Eine Zecke unterhalb des Steißbeins, stellt sich später heraus, die eine Hirnhautentzündung ausgelöst hat. Die Studentin, wie jede Frau, der Darius begegnet, ein Spiegelbild Floras. Und der Gedanke: „Du hast dich davon blenden lassen – und zwar gerne! – was sich deinem Auge als erstes anbot. Dass sie da war, wenn du nach Hause kamst. Sie war da, die Zuhause war da, ein warmes Abendessen war da: alles in Ordnung.“ Jetzt ist nur noch das reine Unterwegssein da, mehr als ein halbes Jahr lang, und die damit verbundene Selbsterkenntnis. Ein Zustand der absoluten Freiheit, der für Darius Kopp naturgemäß ein Zustand völliger Desorientierung ist.

Er gerät in ein bulgarisches Kloster, in einen georgischen Saunaclub. „Das Spiel heißt“, so steht es in Floras Notizen, „jeden Tag von vorne beginnen.“ Flora hat das Spiel verloren, Darius kämpft wie ein Wilder. Das mitzuverfolgen, all die aufwühlenden und anrührenden Szenen, auf knapp 700 Seiten, in all der situativen Komik und der grundsätzlichen Tragik, ist ein Erlebnis. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“, das sich auch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen lässt, gehören zum Besten, was in den vergangenen Jahren in deutscher Sprache geschrieben wurde.

Denn Terezín Mora hat darin einen ästhetisch schlüssigen, psychologisch brutalstmöglichen Zugriff auf die Gegenwart gefunden. Am Ende, das darf verraten werden, ist nichts mehr da. Außer der Asche. Darius Koppe muss also irgendwie weitermachen. Darauf warten wir gespannt.

Christoph Schröder

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