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Mora-Roman "Einziger Mann auf dem Kontinent": Dickes Reh

Erschütternd zeitgemäß: Terézia Moras „Einziger Mann auf dem Kontinent“.

Was für ein Mensch mag das sein, der so denkt: „Das ist meine Stadt. Ich betrachte sie, wie ein Heimkehrender sein Zuhause und gleichzeitig wie ein erstmals hier gelandeter Außerirdischer. Die Straßen sind breit, die Gebäude sind gemäßigt hoch und sandfarben, die Wege sind gut gepflastert und sauber gehalten, die Abgase sind gefiltert, es liegen Schienen, es fliegen Flugzeuge: eine wohlhabende Gesellschaft auf hohem technischen Entwicklungsstand. Wohl genährte, gesunde, fröhliche Population.“ Ist es die naive Zukunftsgläubigkeit oder die Furcht erregende Gegenwartseinverstandenheit, die daran mehr beeindruckt?

Darius Kopp heißt der Protagonist von Terézia Moras neuem Roman, ein Mann mit „106 Kilo bei 178 cm Körpergröße“, der, wie man sagen würde, irgendetwas mit Computern macht. Er ist Spezialist für drahtlose Netzwerkverbindungen, Vertreter eines weltweit operierenden Unternehmens mit Sitz in Kalifornien, dessen Strukturen nicht so ganz klar sind und das aus Zusammenschlüssen und Übernahmeprozessen unterschiedlicher Firmen entstanden ist. Eine Woche lang, von Freitag bis Freitag, begleiten wir Darius bis in alle Intimitäten hinein. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ ist ein Buch, das möglicherweise von einer realistischen Figur erzählt, aber nicht mit den Mitteln des bloßen Realismus. Das ist der zunächst so verwirrende, mit fortschreitender Lektüre jedoch umso bezwingendere Kunstgriff des Romans.

Irritierend ist nicht nur die Erzählstimme, die sich situativ einschaltet, um Szenen zu überspringen oder zu kommentieren, sondern vor allem die Erzählperspektive, die permanent zwischen innen und außen, zwischen verschiedenen Tempi wechselt, oftmals noch im selben Satz: „Das Radio spielte einen Song, den Kopp so mag, dass er aufhören muss, das zu tun, was er gerade tut. Er sah sich wieder die Bäume an. Sie standen. Der Wind war wieder abgeflaut. Die Sonne war kurz davor, auf diese Seite des Gebäudes herum zu wandern. Dann wird Darius Kopp die Terrasse verlassen müssen. Sonst kocht man auf.“ Diese Technik verleiht dem Roman eine ungeheure Rasanz, und Terézia Mora lässt ihren schwergewichtigen Darius mit einer geradezu rehhaften Eleganz durch die Seiten und das Berlin der Jetztzeit eilen.

Die Zeit – die, die man hat oder nicht; die, die man noch braucht; die, die man gerade verschwendet, indem man isst oder sich die Füße massieren lässt – diese Zeit ist eines der Hauptmotive des Buchs. Dem setzt Mora die Zeitvergessenheit der Literatur entgegen, dehnt und staucht die Verhältnisse, wie es gerade nötig ist, erzählt auf fabelhaften fünf Seiten eine ganze Familiengeschichte, um kurz darauf die quälenden Minuten einer Wegsuche im nächtlichen Wald in allen Details zu zelebrieren. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ ist deswegen ein so herausragender Roman, weil er ohne Anbiederung an zeitgeistige Moden von einem sehr heutigen Menschen erzählt. Es geht um Geld, das einmal gezahlt wird und dann nicht; Gesprächspartner, die man erreicht oder auch nicht; um einen Menschen, der, wie viele andere, in einer riesigen Illusionsblase vor sich hinarbeitet, der abhängig ist von den vermeintlich relevanten Daten- und Informationsströmen an seinem Bildschirm; dessen größtes Trauma es ist, nicht voranzukommen, sei es im realen oder im Datenverkehr – und der über all der trügerischen Sicherheit dieses zweifelhaften Aufgehobenseins vergisst, sich um sein tatsächliches Leben zu kümmern.

Denn in zweiter (oder gar in erster?) Linie ist „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ auch eine Liebesgeschichte. Darius’ Frau Flora kommt aus Ungarn, will eigentlich als Übersetzerin arbeiten und jobbt als Kellnerin in einer Strandbar. Nach einem Selbstmordversuch wird ihr attestiert, sie sei eine „highly sensitive person“. Gegenüber ihr wirkt der eher less sensitive Darius ein wenig wie eine Garfield-Figur: schlafen, essen, vögeln als zentrale Antriebe. So einfach könnte es sein, ist es aber nicht. Tatsächlich steuern in diesen sieben Tagen gleich mehrere Krisen ihrem Höhepunkt entgegen: Die einer Beziehung, durch die Perspektivierung auf Darius weniger offen erkennbar, dafür später umso heftiger; eine ökonomische und berufliche, vor allem aber die des Protagonisten selbst: Jeden Tag kommt der Moment des toten Punktes, „wie niedergekeult“ liegt Darius eines Nachmittags in seinem Büro auf dem Teppich und schläft ein. „Burnout“ heißt so etwas in der Fachsprache, Symptome: Panikattacken, Kauftouren, Fressorgien, exzessiver Wunsch nach Sex.

Schon am Mittwoch kommt ihm die Erkenntnis: „Ich bin allein. Hier und jetzt, aber auch allgemein.“ Aber noch immer online, verbunden mit der leeren Welt. Mit ihrem am Ende aus seiner Blase herausgeschleuderten Helden Darius Kopp hat Terézia Mora eine erschütternd zeitgemäße Figur in diesen Bücherherbst hineingesetzt. Man muss einen solchen Menschen schon sehr genau kennen, um ihn so brillant erfinden zu können.

Terézia Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent. Roman. Luchterhand Verlag, München 2009. 380 S., 21,95 €.

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