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Neneh Cherry, geboren 1964 in Stockholm, begann ihre Karriere vor dreißig Jahren.
© Wolfgang Tillmans

Neneh Cherrys Album „Broken Politics“: Teilt die Liebe, nicht die Lügen

Hymnen gegen die Krise: Neneh Cherrys singt auf ihrem großartigen Album „Broken Politics“ über Geflüchtete, US-Waffenpolitik und Kapitalismus.

Dass es damals, Ende der achtziger Jahre, nicht zu einem Skandal kam, als Neneh Cherry im Videoclip zu „Manchild“ ihr recht frisch geborenes Baby im Arm trägt und es immer wieder in die Luft hält und ansingt, als wäre es ein gewindeltes Mikrofon! Und das Mäuschen dann, denn Mama muss jetzt rappen, schnell dem Backgroundsänger in die Hand drückt, weil der fulminante Hip-Hop-Teil beginnt: „See Manchild, you’re no one, you turn the microphone on / Control communication when I’m kickin’ it and so on“!

Nein, es gab deswegen keinen Skandal, keine albernen Vorwürfe in der Boulevardpresse, keine Tiraden von Kindeswohlmeinenden. Cherry war eben von Anfang an souverän, was ihre Aussagen betrifft, egal ob auf textlicher oder visueller Ebene. Und eine „working mum“ darf selbstredend die Kinder mit zum Videodreh nehmen. Seit ihr Debüt „Raw Like Sushi“, auf dem sich neben „Manchild“ auch der Kick-ass-Eighties-Song „Buffalo Stance“ befindet, 1989 diese eigenwilligen, neuen und wichtigen Brücken zwischen Rap, Pop und Feminismus zimmerte, arbeitet sie an ihrer Agenda. Sogar den Kapitalismus hat sie in Popfarben und auf Dancebeats kommentiert. Ein paar Jahre nachdem Madonna mit „I am a material girl“ ihre Vorlieben priorisierte, sang Neneh in „Buffalo Stance“ deutlich: „No moneyman can win my love.“ Auf Mammon hatte sie es eben noch nie abgesehen, nicht mal aus Jux.

Und auch das erst fünfte Soloalbum der 54-jährigen Schwedin „Broken Politics“, das wie das vorherige nicht mehr beim Branchenriesen Virgin, sondern auf einem Independent-Label erscheint, ist politisch. Der druckvoll-schleppende Song „Kong“, den sie mit Robert „3D“ Del Naja von Massive Attack aufgenommen hat, handelt von der Notlage der Geflüchteten bei Calais, von der sie sich mit eigenen Augen überzeugte, als sie Freunde, die dort eine Spendenküche betrieben, als freiwillige Helferin beim Kochen unterstützte.

Hauchdünner Grat zwischen Kraft und Kitsch

„Gotta step out a limb, swallow my pride / surrender, not give myself away“, singt sie aus der Perspektive eines unerwünschten „Fremden“, der seinen Stolz hinunterschlucken, das Überleben über alles stellen muss. Dabei beachtet sie den hauchdünnen Grat zwischen Kraft und Kitsch, überschreitet diese Grenze aber nicht, auch nicht bei starken Emotionen wie auf „Faster than the truth“. Unter dem Song liegt der Schlagzeugbeat von „50 ways to leave your lover“, dazu rappt sie, in einer intimen, fast gebrochenen Tonlage, Zeilen über Liebeskummer und Trennungsschmerz: „Lies travel / faster than the truth / hold it in / isn’t that how the men do“, und schließt so lyrisch den Kreis zu Paul Simons Verlassens-Hymne.

Live hat Cherry die Platte bereits im August beim Pop-Kultur-Festival in der Kulturbrauerei einem restlos bezauberten Publikum vorgestellt. Sie hatte großartige Mitmusikerinnen Harfe, Vibrafon, Keyboard und ein Riesen-Drumset bedienen lassen und sich ausgerechnet bei „Manchild“, das jeder und jede im Raum mitsingen konnte, als nicht hundertprozentig textsicher erwiesen, was dem Charme keinen Abbruch tat. Sie war politisch relevant gewesen, hatte sich gegen Rassismus und Abschottung ausgesprochen, „Refugees“ willkommen geheißen. Als ihr das Monitor-Headset aus dem Ohr fiel und sie es nicht wieder reinfummeln konnte, hatte sie zugegeben, dass sie „mit diesem Digitalzeug“ nichts anfangen könne. Eben typisch Ü50-Europäerin.

Dabei hatte Cherry, die in Stockholm geboren wurde und früh unter die musikalische Fittiche ihres Stiefvaters, des Jazztrompeters Don Cherry, huschen durfte, Mitte der neunziger Jahre sogar ein paar Monate lang mit ihrem Ehemann, dem musikalischen und Lebenspartner Cameron McVey, in Brooklyn gelebt. Nach einem Überfall waren sie jedoch schnell zurückgegangen, samt vier Kindern, erst nach London und später wieder nach Schweden. „Ich habe die Verletzlichkeit des Lebens gespürt, als ich mit einer Pistole bedroht wurde“, sagte Cherry jüngst in einem Interview.

Seit den späten Neunzigern lebt die Familie in Schweden und Großbritannien, und schon auf ihrem letzten Album von 2014 arbeitete sie mit dem Londoner DJ und Musiker Kieran Hebden alias Four Tet zusammen, der auch mit Laurie Anderson gespielt hat.

Cherry kritisiert den Zustand der Emanzipation

Auf „Broken Politics“ verantwortet Hebden ein zweites Mal die relaxten, aber spannungsvollen Atmosphären der Songs, die schleppenden, aber treibenden Rhythmen, die minimalen, aber wirkungsvollen Sound-Arpeggios von Harfe, Klavier, Vibrafon (auf „Black Monday“), die japanischen Flöten, die treibenden Steeldrums (auf „Natural Skin Deep“), genauso wie das dichte, starke Bassgerüst auf fast allen Songs. „Ich finde den Plattensound sehr bildhaft, cinematografisch“, sagt Cherry. Und kommt wieder auf den Kapitalismus zu sprechen, nicht mehr so fresh-verpoppt wie bei „Buffalo Stance“, sondern mit Sorge im Herzen: „Wegen der momentanen Wirtschaftskrise sind die Menschen enttäuscht und desillusioniert, und das ist sehr gefährlich – sie verlaufen sich in den Faschismus.“ Cherry kritisiert auf „Shot Gun Shack“ die amerikanische Waffenpolitik, auf „Black Monday“ kommentiert sie den Zustand der Emanzipation: „Womanhood – we messed it up.“

Aber man darf sich, wie eingangs erwähnt, eben nicht wundern. Eigentlich passte sich Cherry mit ihrem Baggy- Streetstyle-Schick, den fliegenden Locken, den Hula-Hoops am Ohr stets nur äußerlich dem MTV-Popbild an. Eigentlich hatte immer schon mehr dahintergesteckt. Der erste Song, den sie 1982 mit einer Punkband aufgenommen hatte, war ein Kampflied gegen den Falklandkrieg. Und sogar das stimmungsvolle Sinatra-Cover „Under my Skin“ wandelte sie 1990 mit „Share the love, don’t share the needle“ (teilt eure Liebe, nicht die Nadel) zu einem Anti-Aids-Slogan.

„Ich schaue mich um und sehe nicht, dass sogenannte Politiker irgendetwas Gutes für die Menschheit tun“, ätzt Cherry im Interview und formuliert damit eine verbreitete, wenn auch naive Politikverdrossenheit. Die sie bestimmt weiterhin künstlerisch nutzen kann. Denn damit gibt es zumindest tatsächlich etwas zu sagen.

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