Spotten über den Premierminister: Täuscher, Trickser, Boris Johnson
Den Premierminister zu beleidigen ist unter den Briten zum Volkssport geworden. Die Anspielungen reichen vom Johannesevangelium bis zur griechischen Antike.
Ehe Großbritannien aus den Fugen geriet, galten dort eiserne politische Gesetzmäßigkeiten. Dazu gehörten folgende Grundsätze: Emeritierte Funktionsträger äußern sich über die Amtierenden positiv, wenn überhaupt. Nur nach außen geschlossen wirkende Parteien können Wahlen gewinnen. Überprüfbare Fakten bilden die Grundlage der öffentlichen Debatte, Märchenerzähler werden rasch entlarvt und der politischen Arena verwiesen. Insbesondere das Spitzenpersonal, angeführt vom Premierminister, darf sich keinesfalls beim Schwindeln erwischen lassen.
Nichts davon gilt mehr. Das Verhältnis von Premierminister Boris Johnson zur Wahrheit weise Ähnlichkeiten mit einem „unehrlichen Immobilienmakler“ auf, teilte vergangene Woche ein Anwalt dem Londoner Supreme Court mit. Der Mann, selbst früheres Kabinettsmitglied und konservativer Lord im Oberhaus, sprach im Namen von John Major, einem Tory-Vorgänger Johnsons im Amt des Premierministers (1990-97).
Dessen engster politischer Verbündeter Chris Patten brachte im ersten Absatz einer Buchrezension folgende Vokabeln unter, um den Ersten Minister Ihrer britannischen Majestät zu beschreiben: ein Täuscher, ein Trickser, berechnend, lügenhaft.
Mutter aller Parlamente gegen den Vater der Lüge
Was den Parteifreunden recht, ist dem Rest des Landes billig. Fieser Kerl, Clown, Scharlatan – Johnson zu beleidigen, ist zum gesetzlich geschützten Volkssport geworden. Kaum jemand ist so elegant und sprachgewaltig wie Aidan O'Neill, der ebenfalls im Supreme Court plädierte. Die „Mutter aller Parlamente“, wie Briten gern ihr Unterhaus nennen, sei zwangsweise geschlossen worden vom „Vater der Lüge“, lautete das Wortspiel des Anwalts.
Hatte der Schotte wirklich das Johannesevangelium zitiert und also den Hobbyhistoriker Johnson mit dem Teufel verglichen? Nach der Herkunft seines Sprachbildes gefragt, nennt O'Neill stattdessen den antiken griechischen Geschichtsschreiber Herodot, von Cicero als „Vater der Geschichtsschreibung“ gepriesen, von Kritikern als „Vater der Lüge“ denunziert.
Die Assoziation leuchtet sofort ein, schließlich betätigt sich Johnson gern als Autor vermeintlicher Sachbücher („The Churchill Factor“), die von echten Historikern lieber ins Mysterien-Regal eingeräumt werden. Ohnehin wird man auf der Insel den Eindruck nicht los, das Land und sein Vormann seien derzeit damit beschäftigt, die abendländische geistige Entwicklung vom Mythos zum Logos ins Gegenteil zu verkehren.
Das Ausland darf nicht mitbeleidigen
In ihrem einstimmigen Urteil machten sich die elf Höchstrichter zu würdigen Nachfolgern Salomos. Sie erklärten die „rechtswidrige“ Schließung des Parlaments für null und nichtig, verweigerten aber eine Antwort auf die Frage nach Johnsons gestörtem Verhältnis zur Wahrheit.
Ausländern geht es ähnlich wie der Judikative: Ihnen bleibt die Beteiligung am Volkssport der Premierministerbeleidigung naturgemäß verwehrt, schließlich gilt die englische Maxime „right or wrong, my country“. Das schließt sogar den Lügenbold Johnson ein. Aber die Antike bietet feingeistigen Wortschmieden andere Anknüpfungspunkte, weit unterhalb der Invektive. Als Meister feinsinniger Anspielung im Rückgriff auf uralte Mythen erwies sich kürzlich der irische Premier Leo Varadkar.
Der nutzte Johnsons kürzliche Stippvisite in Dublin zu einer kleinen Lektion. In elegantem Englisch erläuterte der Taioseach (irisch für Häuptling) dem Kollegen nicht nur die Parameter einer Lösung des Brexit-Dilemmas. Er versprach dem Besucher, falls dieser sich artig verhalten sollte, auch Hilfe bei dessen „herkulischen Aufgaben“ und fügte hinzu: „Wir wollen dabei Ihr Freund und Verbündeter, Ihre Athene, sein.“
Anspielungen auf Herkules
Die Anspielung des Allgemeinarztes Varadkar auf die griechische Sagenwelt war oberflächlich gesehen dazu angetan, dem studierten Altphilologen zu schmeicheln. Dass der Besucher stattdessen herumzappelte, kurzzeitig seinen Frühsport nachzuholen schien und dabei dem Gastgeber beinahe einen Nasenstüber verpasste, mag daran gelegen haben, dass er das vermeintlich großzügige Hilfsangebot sogleich als Danaergeschenk identifizierte.
Tatsächlich stellt ja der Vergleich selbst schon eine feinsinnige Invektive dar, schmerzhaft umso mehr, weil sie der Wahrheit entspricht: Die Göttin der Weisheit und des Krieges (der den bewaffneten Frieden einschließt) ist natürlich mächtiger als der bärenstarke Halbgott Herkules. Mithilfe Brüssels hat die Insel im Nordwesten des Kontinents das Verhältnis zum viel größeren Nachbarn umgekehrt: Erstmals in den 800 Jahren englisch-irischer Geschichte steht das kleinere Land mächtiger da als das einstige Empire, jedenfalls solange die europäische Solidarität trägt.
Zudem gibt es im Verhältnis Athenes zu Herkules zwei Phasen. Varadkars Satz bezog sich auf die Hilfe bei den zwölf Aufgaben des Herkules, die ihm sein feiger Lehnsherr und entfernter Cousin Eurystheus auferlegt. So dankbar soll der erschöpfte Held für Athenes mehrfaches Eingreifen gewesen sein, dass er der Helferin sogar die goldenen Äpfel der Hesperiden schenkte, die den Göttern ewige Jugend verleihen. In einer anderen Version – die Quellenlage ist hier ähnlich umstritten wie bei britischen Brexit-Plänen – liefert er das begehrte Obst beim Auftraggeber Eurystheus ab, dieser gibt die Äpfel an Athene weiter.
So weit, so harmlos. Wie aber kam es überhaupt zu den sprichwörtlichen herkulischen Aufgaben? Herkules, so berichten es die Geschichtenerzähler, sei von der launischen, stets zu blutigem Schabernack aufgelegten Göttin Hera mit einem zeitweiligen Wahnsinn geschlagen worden. Im Zustand geistiger Umnachtung erschlägt er Frau und Kinder, trachtet auch noch weiteren Menschen nach dem Leben. In einer – der älteren? – Fassung des Mythos erwacht der Held rechtzeitig aus seinem Blutrausch, ehe er weiteren Schaden anrichten kann.
Hoffen auf die Götter
Es gibt aber auch jene Version, die Johnson zappeln ließ: Athene fällt dem Blutrünstigen in den Arm, schlägt ihn geradezu k.o., um weiteres Unheil zu verhindern. Aus der Bewusstlosigkeit erwacht, sieht der Held, was er angerichtet hat, bereut bitterlich und lässt sich vom Orakel von Delphi die Leibeigenschaft und damit die zwölf Aufgaben verordnen.
Dass Großbritannien in den kommenden Wochen bis zum Austrittstermin am 31. Oktober und viele Jahre danach, egal unter welchem Premierminister, herkulische Aufgaben bevorstehen, bezweifeln auf der Insel nur die Propagandisten des nostalgischen Nationalismus, auf dem das Brexit-Projekt beruht.
Besorgte Beobachter mögen sich insgeheim die Intervention einer wohlwollenden, notfalls robust zuschlagenden Göttin wünschen. Die europäischen Partner sollten sich hingegen im Sinne Varadkars auf die zweite Phase der Beziehung zwischen Athene und Herkules konzentrieren, dem reumütigen Sünder Helfer und Freund sein. Und dabei auf jeden Fall stets höflich bleiben.