Serie „I Love Dick“ nach Chris Kraus' Roman: Tanz um das Alphatier
Abstrakte Romanze: Die „Transparent“-Produzentin Jill Soloway adaptiert Chris Kraus’ Feminismusklassiker „I Love Dick“ als Serie und holt den Stoff in die Gegenwart.
Eine Frau namens Chris verguckt sich an einem Abend im Dezember 1994 in Dick, einen Kollegen ihres Mannes. Ihr Interesse bleibt unbemerkt oder zumindest unerwidert, aber die Frau verstrickt sich in ihre amour fou. Sie beginnt unmittelbar danach – gemeinsam mit ihrem Mann Sylvère – Briefe an Dick zu schreiben (die sie nie abschickt). Daraus entwickelt sich ein „Konzept-Fick“, eine „abstrakte Romanze“: die imaginäre ménage à trois eines Ehepaares, das einander nach über zehn Jahren freundschaftlich zugetan, aber nicht mehr sexuell aktiv ist.
Die Korrespondenz wird zu einem Briefroman in zwei Etappen, die mit „Szenen einer Ehe“ und „Jeder Brief ist ein Liebesbrief“ betitelt sind. Der erste Teil endet mit der Trennung des Paares. Der zweite kreist weiter um die Fantasien über den großen Abwesenden. Es geht aber auch deutlicher darum, wie künstlerische und intellektuelle Milieus, denen Chris, Sylvère und Dick in den neunziger Jahren angehörten, Frauen und deren Erfahrungen platzieren beziehungsweise ausschließen. Unter dem Titel „I Love Dick“ werden diese fest in der Autobiografie der Autorin und Filmemacherin Chris Kraus verankerten Texte 1997 bei Semiotext(e), dem Verlag ihres Mannes Sylvère Lothringer, publiziert. An einer Stelle, die ein Vorwort von Dick imaginiert, heißt es: „Ich sehe nicht wirklich Potenzial für einen Film, weil keine der Figuren sympathisch ist.“
Zwanzig Jahre und ein TV-Serien-Revival später ist ein solches Anforderungsprofil nicht mehr zwingend. Und Jill Soloway, preisgekrönte Autorin und Produzentin der Serie „Transparent“, hat den Roman (und damit auch die ihm zugrunde liegende „wahre Geschichte“) in einer weiteren Drehung als Serie für Amazon Prime adaptiert. Bei vier der acht Folgen führte die Britin Andrea Arnold Regie.
Kevin Bacon zelebriert Dick als Über-Cowboy
Die folgenreiche Begegnung im Dezember 1994 wird zunächst in die Gegenwart geholt und neu gerahmt: Chris steht kurz vor der Abreise zur Premiere ihres Films in Venedig – sie will nur noch ihren Mann am Institut seines neuen Mentors absetzen –, als der Film wegen Rechtsstreitigkeiten plötzlich wieder ausgeladen wird. In ihrem aufgebrachten Zustand begegnet sie das erste Mal Dick, auf den ihr Blick fällt, während er sich eine Zigarette dreht. Die Zeit bleibt stehen.
Jill Soloway hat die Folge selbst inszeniert und den filmischen Blick an entscheidenden Stellen als den der Protagonistin markiert: wenn er Begehren ausdrückt, aber auch, als sich Dick und Sylvère beim Essen gegen Chris verbrüdern. Trotz solcher Akzentuierungen entfernt sich die Erzählung von Anziehung und Zurückweisung, vom Schreiben und den Tänzen um Dick nicht weit vom Repertoire zeitgenössischer Romantic Comedies mit transgressiven weiblichen Figuren, die im Kino meist von Kristen Wiig, Amy Schumer oder Tina Fey gespielt werden.
Die Rolle von Chris übernimmt die auf diesem Feld ebenfalls bewährte Kathryn Hahn, sie bricht die Egozentrik ihrer Figur mit Schusseligkeit, manchmal auch umgekehrt. Griffin Dunne spielt ihren Ehemann etwas übertrieben als zerstreuten Professor. Kevin Bacon wiederum zelebriert Dick, das Objekt der Begierde, das in der Serie als eigener Charakter zu seinem Recht kommt, als Über-Cowboy: traumwandlerisch selbstsicher, einen Tick verlangsamt und abgehoben von der restlichen Menschheit.
Soloway hat die Geschichte von Kalifornien ins texanische Städtchen Marfa verlegt, das nach dem Zuzug des Minimal Artist Donald Judd in den siebziger Jahren einen Strukturwandel zum Kunst-Hotspot vollzog. Allerdings weiß Soloway mit dem Milieu wenig mehr anzufangen, außer es nah an den üblichen Ressentiments als weltfremd und verblasen zu belächeln.
Da sind andere Eingriffe in die Vorlage schon ergiebiger. So stellt „I Love Dick“ die Filmemacherin in eine Traditionslinie, indem sie einen Crashkurs zur Geschichte des Experimentalfilms und feministischer Performancekunst anbietet. In den einzelnen Folgen sind Ausschnitte aus Arbeiten von Vorläuferinnen wie Maya Deren, Chantal Akerman, Carolee Schneemann, Marina Abramovic oder Annie Sprinkle einmontiert, deren filmische (Selbst-)Reflexionen einen gewitzten Resonanzraum bilden. Die Zitate liefern außerdem handfeste Argumente gegen Dick, der Chris beim Abendessen erklärt, Filmemacherinnen seien nicht in größerer Zahl zu finden, weil Frauen einfach schlechte Filme machen.
Neue Perspektiven für die Titelfigur
Die Stärke der Serie besteht darin, dass Soloway die Ich-Perspektive von Chris auffächert, indem sie neue Protagonistinnen einführt und Vielstimmigkeit erzeugt. Die Dreiecksgeschichte wird selbst zum Material: Die lesbische Dramatikerin Devon (Roberta Colindrez) etwa plant ein Theaterstück. Vermutlich haben Soloway und ihre Koautorin Sarah Gubbins bei diesem Kunstgriff eine Bemerkung aus dem Buch im Sinn gehabt: „Lieber Dick, was sich zwischen Frauen abspielt, ist gerade das Allerinteressanteste, weil es zugleich das am wenigsten Beschriebene ist.“
Aus dieser Strategie ergeben sich immer neue Perspektiven auf die Titelfigur. Devon zum Beispiel hat Dicks Auftreten als Performance von Männlichkeit studiert und sich diese später anverwandelt. Und die Star-Stipendiatin Toby (India Menuez) erklärt das Modell Dick, den „männlichen Alpha-Künstler des späten 20. Jahrhunderts“, für überholt. Die Generation nach Kraus hat, so scheint es, Chris' Dilemma intellektuell und libidinös ein Stück weit überwunden. „I Love Dick“ landet zwanzig Jahre nach dem stilbildenden Roman in einem kulturellen Umfeld, das in Serien wie „Girls“, „Broad City“ oder „Fleabag“ die mannigfaltigen Möglichkeiten weiblicher Subjektivität – im Kunstbetrieb, an der Universität, im Alltag –, bereits erfolgreich durchgearbeitet hat.
Ab diesem Freitag auch in deutscher Synchronisation auf Amazon Prime
Isabella Reicher
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