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Surrealer Trip. Die Tänzer und Tänzerinnen in Moreaus Stück „Siena“ vor Tizians „Venus von Urbino“.
© Jesus Robisco/Tanz im August

Höhepunkt beim Festival "Tanz im August": Tanz mit allen Sinnen

Die Entdeckungen beim "Tanz im August": Marcos Moreaus entwickelte in "Siena" die Reise in die Kunstgeschichte zum surrealen Trip. Und Anne Teresa de Keersmaekers bescherte mit "Rosas" dem Festival erneut eine Sternstunde.

Ein Museum bei Nacht – in dem Tanzstück „Siena“ ist es ein Ort der sich kreuzenden Obsessionen, der ausschweifenden Fantasien. Der spanische Choreograf Marcos Moreau und seine Kompanie La Veronal, die in der Schaubühne auftraten, sind eine der Entdeckungen beim „Tanz-im-August“-Festival. Mit „Siena“ führt uns Moreau in das Italien der Renaissance. Anfangs sitzt eine junge Frau allein in einem Museumssaal und schaut sich ein berühmtes Gemälde an: Tizians „Venus von Urbino“. Die unbekleidete, sich auf einem weißen Laken räkelnde Schöne wirft dem Betrachter einen sinnlichen, fast provokanten Blick zu.

Tänzerinnen in Fechtmontur huschen über die Bühne, auch sie zieht das überdimensionale Gemälde an. Eine Bahre wird hineingerollt, auf der bald eine Tote liegt. Die Reise in die Kunstgeschichte entwickelt sich zum surrealen Trip, in dem sich Realität und Fantasie durchdringen. Die rätselhaften Dialoge eines Mannes und einer Frau im Off beschwören das Gefühl eines Déjà-Vues. Wiederholt läutet ein Telefon. Man fühlt sich an die halluzinatorischen Filme von David Lynch erinnert.

Moreau erzählt von unserem Bedürfnis, uns selbst zu betrachten. Dabei entwirft er eine raffinierte Choreografie der Blicke. Zudem zeigt er, wie sich die Wahrnehmung des Körpers im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Die Tänzerinnen imitieren in ihren Tableaus die Haltungen und Figurenkonstellationen von bekannten Gemälden. Man denkt an Raffaels Kreuzabnahme oder den Reigen der Grazien aus Botticellis „Primavera“. Moreau zettelt ein cleveres Verwirrspiel an: Die Tizian-Venus wird konfrontiert mit einer gefälschten Bildbeschreibung wie aus dem Audioguide. Das zeitgenössische Bild eines Elliot Cleaver, das einen jungen schwarzen Mann auf einem roten Sofa zeigt, existiert nicht. Der Mann als Modell – Moreau greift hier die feministische Kritik auf. Dass es ein männlicher Impuls sei, den nackten Körper zu betrachten, widerlegt sein Stück aber.

„Siena“ thematisiert die hirnlose und seelenlose Masse

Der Mensch als Maß aller Dinge – das stimmt schon lange nicht mehr. Auch „Siena“ thematisiert die hirnlose und seelenlose Masse. Die Gegenwart gleicht einer Danteschen Hölle. Moreaus Stück fasziniert nicht nur durch seine Bildsprache und seine ausgetüftelte Choreografie. Es ist auch eine kluge Reflexion über den Körper und das Imaginäre, über Begehren und Tod. Und es stellt zudem die Frage, was von den humanistischen Idealen übrig geblieben ist.

Anne Teresa de Keersmaeker bescherte dem „Tanz im August“ erneut eine Sternstunde. Die Flämin, die den Dialog mit der Musik stetig verfeinert, hat dieses Mal ein Schlüsselwerk der Spektralmusik ausgewählt: „Vortex Temporum"“ von Gérard Grisey. Der französische Komponist wirbelt in seinem Spätwerk unterschiedliche Zeiten durcheinander: die der Menschen, Wale und Vögel. Sieben Tänzer der Kompanie Rosas und sechs Musiker des Neue-Musik-Ensembles Ictus werden in diesen „Zeitenstrudel“ hineingesogen. Anfangs gehört den Instrumentalisten allein die Bühne. Das Hören und auch das Beobachten der Musiker beim Spielen – für de Keersmaeker eine Inspiration.

Tänzer und Musiker vom Zeit-Wirbel erfasst

Der Auftritt der Tänzer, vier Männer und zwei Frauen, beginnt dann in der Stille. Sie greifen zunächst den Gestus des Musizierens auf, vor allem mit Armbewegungen und Verrenkungen des Oberkörpers, doch sie variieren dieses Vokabular und entwickeln es weiter. Dabei dominieren die für die Flämin so charakteristischen Spiralmuster, die in immer neuen Ausprägungen zu sehen sind. Tänzer und Musiker werden von dem Zeit-Wirbel erfasst, sie laufen gegen den Uhrzeigersinn – und auch das Klavier dreht sich im Kreis.

Wie die Choreografin die musikalischen Strukturen in räumlichen Arrangements visualisiert, ist verblüffend. Und keiner versteht es wie sie, ein kontrapunktisches Beziehungsfeld zu entwerfen. Die Klänge erinnern schon mal an flatternde Vögel. Die Tänzer schwärmen immer neu aus, trudeln und kurven auf Bahnen, die vorbestimmt scheinen. Auch Planetenlaufbahnen kann man assoziieren.

Die Tänzer haben eine wunderbare Durchlässigkeit. Sie nehmen die Musik mit allen Sinnen auf, doch sie folgen ihr nicht strikt. Das macht diesen Dialog so spannend. Am Ende werden die Tänzer von der Dunkelheit verschluckt. Zuletzt sieht man in einem Lichtspot den erhobenen Zeigefinger des Dirigenten. Wie de Keersmaeker Musik, Tanz und Kosmologie verbindet, ist überaus erhellend.

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