Berliner Festspiele: Licht in die Sinnfinsternis
Die flämische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker zeigt zwei neue Stücke beim Festival "Foreign Affairs" in Berlin
Man kann wirklich nicht behaupten, dass Frie Leysen, die künstlerische Leiterin von „Foreign Affairs“, den Berlinern zu viel zumutet. Zumindest legt sie Wert auf ein ausgeschlafenes Publikum. „Cesena“, ein „Tanzstück bei Sonnenaufgang“ von Anne Teresa de Keersmaeker, wurde jüngst bei der Ruhrtriennale um fünf Uhr morgens aufgeführt. Leysen aber hatte Erbarmen und setzte die Vorstellung der Rosas für acht Uhr abends an. Und da gerät höchstens der Biorhythmus durcheinander, denn wenn es nach einer langen Phase der Dunkelheit peu à peu heller wird auf der Bühne, dann scheint hier ein neuer Tag anzubrechen. Und es wird einem leicht ums Herz – anders als am Vorabend bei „En Atendant“. Dort gehen die Tänzer vom Licht in die Dunkelheit, in die totale Sinnfinsternis.
Anne Teresa de Keersmaeker hat „En Atendant“ (2010) und „Cesena“ (2011) ursprünglich für das Festival in Avignon konzipiert – was auch ihre Musikwahl beeinflusste. Zusammen mit dem Musikethnologen Björn Schmelzer hat sie Werke der Ars subtilitor ausgewählt, die Ende des 14. Jahrhunderts auch am Papsthof in Avignon entstanden sind – vielstimmige Vokalkompositionen mit fremd wirkenden Rhythmen und Harmonien.
Das überaus spröde „En Atendant“, das weitgehend in der Stille getanzt wird, wirkt wie eine Vorstudie zu „Cesena“. Wenn sich hier die Tänzer von Rosas und die Sänger von Graindelavoix zu einem Ensemble vereinen, hat das eine ganz andere Kraft. Zuerst hört man die Tänzer eher, als dass man sie sieht. Dann schälen sich die Schemen der Körper aus dem Dunkel, eine Tänzerin stolpert, als hätte man sie geschubst. Gemessen schreitet das 19-köpfige Ensemble nach vorn, die Tänzer und Sänger fassen sich an den Händen oder Schultern – wenn de Keersmaeker musikalisch an eine dunkle Epoche erinnert, beschwört sie zugleich die Kraft der Gemeinschaft. Die Performer geraten bald ins Driften, manchmal stieben sie wie panisch auseinander. Der Tanz bewegt sich auf unsicherem Terrain. Ein Mann mit dunklem Bart, der einen wütenden Veitstanz aufführt, wird zum Aussätzigen. Sobald er sich nähert, laufen die anderen davon. Die flämische Choreografin streut und verdichtet die Aktionen, findet immer neue Raummuster. Oft dividieren sich die Performer auseinander, doch dann werden die Sänger von der Bewegung mitgerissen, und die Tänzer geraten in den Sog der Musik. Wenn sie kollidieren, sich verkeilen, stürzen oder gegenseitig stützen, scheint das Tableau ein historisches Drama einzufangen.
Aber natürlich verliert das Tanzstück, das für den Cour d’honneur des Papstpalasts in Avignon konzipiert wurde, wenn es im Bühnenraum aufgeführt wird. Denn es stellen sich keine Assoziationen zu Pest oder Schisma ein – man denkt auch nicht unbedingt an das Massaker von Cesena, das Clemens VII. 1377 anordnete und das 4000 Menschen das Leben kostete. Die Schmerzensbilder bleiben im Abstrakten – Körper stürzen brutal zu Boden, reglose Tänzer werden von den anderen wie Verwundete behutsam bewegt und geborgen. Meist aber tragen alle eine erlesene Traurigkeit zur Schau.
Und doch ist „Cesena“ nicht nur dichter gewebt, sondern auch emotional aufgeladener als „En Atendant“. Die Choreografie setzt Fliehkräfte frei, hält aber immer die Spannung zwischen den Darstellern aufrecht. Die zunehmende Helligkeit bringt immer mehr Details zum Vorschein. Die Bewegungen erscheinen in einem anderen Licht. Wenn gegen Ende „Le Ray au Soleyl“ erklingt, verbindet sich dies mit der Hoffnung auf eine Zeitenwende. Die Morgenröte der Renaissance ist gemeint, die ein neues Menschenbild erschafft. Bei Anne Teresa de Keersmaeker scheint es, als hätten die Körper auf einmal eine andere Beschaffenheit, die Tänzer wirken, als wäre eine Last von ihnen genommen, sie springen wie ausgelassene Fohlen über die Bühne. Zusammenklang und Reibung zwischen dem mittelalterlichen Gesängen und dem postmodernen Tanz in „Cesena“ sind spannend, auch wenn der Abend immer wieder ins Andächtige kippt.
Anne Teresa de Keersmaeker gewährt auch einen Einblick in ihr Schaffen. Am Nachmittag stellt sie die Publikation „A Choreographers’s Score“ vor, herausgegeben mit der Dramaturgin Bojana Cvejic. Das Mixed-Media-Produkt umfasst ein Buch und vier DVDs, anhand von vier frühen Werken – „Fase“, „Rosas danst Rosas“, „Elena’s Aria“ und „Bartók“ – erläutert die Choreografin ihre Methoden. Dann tanzt sie selbst einen Ausschnitt aus „Violin Phase“ und erklärt dabei die geometrischen Muster. Es gehe darum, großzügig zu sein und sein Wissen mit anderen zu teilen, sagte de Keersmaeker. Und es gibt immer noch Neues zu entdecken in ihren Werken.
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