Die Philharmoniker spielen Beethovens Neunte: Sturz in die Utopie
Staatskunst ist sie schon lange. Jetzt haben die Berliner Philharmoniker Beethovens 9. Symphonie zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in der Philharmonie gespielt.
Die Neunte! Für was musste sie alles herhalten mit ihrem Götterfunken, der mal jubilierend auf Schlächter, mal auf ihre Opfer fiel. Beethovens finale Symphonie war Staatskunst, lange bevor die Bundesregierung Anstrengungen zum 250. Geburtstag ihres Schöpfers im Koalitionsvertrag festhielt. Auch zum Mauerfall hat die Neunte den Soundtrack geliefert: Lenny Bernstein dirigierte sie im Konzerthaus und ließ „Freiheit, schöner Götterfunken“ singen, was ihn für einige der kapitalistischen Propaganda verdächtig machte. Die Trennung Deutschlands verlief durch die im Krieg entzweite Partitur: Genau dort, wo die Altstimmen „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ anstimmen, zerfiel der Autograf in einen West- und einen Ostteil. Symbolischer geht es nicht.
Das wissen Simon Rattle und seine Philharmoniker, die die Neunte zum Herzstück ihrer Konzerte zum 25. Jahrestag des Mauerfalls und einer Tournee nach Halle, Warschau, Budapest und Prag machen. Der Gestus kultureller Lufthoheit verbietet sich hier ohnehin, als Dank wollen die Musiker ihre Auftritte verstanden wissen, mit einer Verbeugung Richtung Osteuropa. Und so werden der Neunten nachdenkliche Werke vorangestellt, von Szymanowski, Kurtág, Martinú und Lachenmann, je nach Station. Beim Auftakt in der Philharmonie steht Karol Szymanowskis 1929 uraufgeführtes„Stabat Mater“ voran, ein in seiner bewussten Schlichtheit berührendes Werk . Sally Matthews’ wunderbar eingedunkelt klagender Sopran bildet das Epizentrum, um das Rattle seine Musiker mit kenntnisreicher Empathie führt.
Mit den ersten Takten der Neunten soll alles anders sein: Plötzlich ist nichts mehr sicher, kein Maß gefunden, kein Ton gesetzt. Heiser und stammelnd gar am Anbeginn stürzen sich die Philharmoniker ins Unmögliche, denn davon handelt die Neunte in ihrem Kern: ein utopisches Kunstwerk, eine Zumutung. Unter Rattle bekommt das Ringen nie titanische Schwere, bleibt zutiefst individuell, nicht glattzubürsten, widerständig. Weniger Streicher hätten die Balance noch aufregender machen können, doch wer wollte sie im herzströmenden Adagio molto e cantabile missen? Das Solistenquartett wird gnädig vom Rundfunkchor überstrahlt: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Es ist längst nicht zusammengewachsen, was zusammengehört.