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Chailly wurde 1953 in Mailand geboren. Seit 2015 ist er dort wieder Musikdirektor an der Scala.
© Silvia Lelli

Riccardo Chailly in Berlin: Studieren geht über Probieren

Maestro mit Tiefgang: Der italienische Dirigent Riccardo Chailly kommt mit dem Orchester der Mailänder Scala zum Musikfest Berlin.

Berlin ist für Riccardo Chailly eine ganz besondere Stadt. Schließlich konnte er hier den Grundstein für seine internationale Karriere legen. Im Januar 1980 hatten die Berliner Philharmoniker den 26-jährigen Mailänder eingeladen: „Auf dem Programm standen Beethovens 2. Klavierkonzert mit Radu Lupu als Solist, dazu die Vierte von Tschaikowsky und die Kammersinfonie von Schönberg“, erinnert sich der Dirigent. „Ein wirklich anspruchsvolles Programm – und ein großes Risiko für mich. Aber es hat funktioniert.“ Nicht nur, weil sich aus diesem Debüt eine bis heute andauernde Partnerschaft mit den Philharmonikern entwickelte, sondern auch, weil ein paar andere Menschen bei dem Konzert im Saal saßen und sehr aufmerksam zuhörten: Musiker des Berliner Radio-Symphonie- Orchesters, des heutigen DSO, die gerade auf der Suche nach einem künstlerischen Leiter waren – und dem jungen Chailly prompt die Position anboten. Er schlug ein und trat in der Mauer-Stadt seinen allerersten Chefposten an.

„Das Verrückte ist ja“, erzählt der mittlerweile 64-jährige Maestro im Interview, „dass es in meiner Karriere immer so war.“ Stets wurde er vom Fleck weg engagiert. „Beim Concertgebouworkest in Amsterdam wurde mir nach einer Probenwoche der Chefposten angeboten, ebenso beim Teatro Communale di Bologna, später beim Orchestra Verdi in Mailand und auch beim Leipziger Gewandhaus.“ Nur an der Mailänder Scala, der Chailly seit 2015 vorsteht, war das anders: „Denn hier hatte ich ja bereits 1978 mit Verdis ,I masnadieri’ nach den ,Räubern’ von Schiller debütiert.“ Als jüngster Dirigent in der Geschichte des Hauses.

Chailly will alle Dirigentenstars an die Scala holen

Wenn Riccardo Chailly am 13. September mit dem Orchester der Scala beim „Musikfest Berlin“ gastiert, dann will er zeigen, dass seine Musiker nicht nur Oper können. Das Label „bestes Orchester Italiens“ wehrt er allerdings ab: „Rankings mag ich generell nicht, das klingt immer so nach Olympia-Wettbewerben. Italien ist eine Musiknation mit geschichtlicher Bedeutung, wie auch Deutschland. Wir haben diese große Tradition, und um die geht es.“

Zusammen mit dem Scala-Intendanten Alexander Pereira arbeitet Chailly daran, dass die stolze Institution mehr ist als nur ein Museum mit glorreicher Vergangenheit. Zum Beispiel, indem sie den Beginn der Saison wieder in den September vorverlegt haben. Jahrzehntelang wurde die Stagione der Scala erst am Tag des Mailänder Stadtheiligen St. Ambrosius eröffnet. Und der fällt auf den 7. Dezember. „Jetzt haben wir wieder ein Angebot, das bis in die sechziger Jahre selbstverständlich war, als es nur eine Sommerpause im Juli und August gab und sonst durchgespielt wurde.“

Chailly selber erarbeitet nur zwei Opern-Neuproduktionen pro Jahr sowie mehrere sinfonische Programme. „So kann man mehr Gastdirigenten einladen“, erklärt er. „Denn mir ist ja daran gelegen, dass an der Scala alle wichtigen Dirigenten der Welt auftreten.“ Ein Credo, das nur wenige Musikchefs großer Institutionen teilen. Viele lassen ungern andere Götter neben sich gelten. Seit Chaillys Amtsantritt konnten dagegen einige Stars der Branche endlich ihre Debüts an der Scala geben: Simon Rattle beispielsweise, aber auch die Altmeister Bernard Haitink und Herbert Blomstedt. In dieser Saison dirigieren unter anderem Zubin Mehta und Christoph von Dohnanyi.

Die Musiker werden zwei Werke von Verdi im Gepäck haben

Innerhalb des Riesenbetriebs der Scala nimmt die sogenannte „Filarmonica“ eine Sonderrolle ein. Denn die Musikerinnen und Musiker spielen die Sinfoniekonzerte in ihrer Freizeit. Die Idee dazu stammt von Claudio Abbado und wurde im Jahr 1982 geboren. Seitdem veranstaltet das Orchester die Konzerte autonom – aber eben auch auf eigenes finanzielles Risiko. „Manchmal muten sich die Musiker extreme Arbeitsbelastungen zu“, betont Chailly, „wenn sie sich entscheiden, parallel zu einer Opernproduktion auch noch Konzertprogramme einzustudieren. Aber sie machen es bewusst, um der Sache willen.“ Und das Angebot wird angenommen im Opernland Italien, wo es tatsächlich nur zwei Orchester gibt, die sich allein aufs Sinfonische konzentrieren: Das RAI-Orchester in Turin sowie die Accademia di Santa Cecilia in Rom. „Als Claudio die Filarmonica gegründet hat, gab es 80 Abonnenten, heute sind wir bei 1400 Abos“, berichtet Riccardo Chailly stolz. Zehn Konzerte pro Spielzeit gibt das Orchester in Mailand, 16 auf Tournee.

Natürlich möchten die Veranstalter von den Mailändern am Liebsten italienisches Repertoire hören. Doch die wollen auch ihre Vielseitigkeit vorführen, so wie jetzt in der Philharmonie, indem sie neben Verdi-Werken auch das Violinkonzert von Johannes Brahms spielen, mit dem Solisten Leonidas Kavakos. „Ich arbeite mit den Musikern sehr viel am Klang, und zwar jeweils bezogen auf die konkreten Kompositionen“, sagt Chailly. So hat er zuletzt bei Rossinis „La Gazza ladra“ mit seinem Ensemble den ganz speziellen Buffo- Stil verfeinert, aber eben auch einen Schwerpunkt auf Brahms gelegt: „Da sind wir wieder nach diesem Prinzip vorgegangen, haben einen Annäherungsprozess durchlaufen in den Proben.“

Von Giuseppe Verdi werden die Musiker zwei Werke im Gepäck haben, die man in Deutschland selten hört: Die Ouvertüre zur Oper „I Vespri Siciliani“ sowie Ausschnitte aus den „Quattro pezzi sacri“. Uraufgeführt 1898, ist das Spätwerk der zweite bedeutende Beitrag des Komponisten zur Kirchenmusik, neben seinem Requiem. „Die Geschichte der italienischen Oper ist untrennbar mit der Mailänder Scala verbunden“, sagt Chailly, „aber unser Orchester vermag eben auch diese sakrale Musik wunderbar zu spielen.“

Einzige Chance, Chailly in Berlin zu erleben

Es gibt Dirigenten, die ihr Selbstbewusstsein vor allem daraus ziehen, dass sie ununterbrochen um die Welt jetten. Riccardo Chailly gehört nicht zu ihnen. Ebenso wie sein einstiger Mentor Claudio Abbado zieht er sich regelmäßig in sein Arbeitszimmer zurück, um dort neue Partituren zu studieren oder altbekannte immer wieder zu überdenken. „Ich betrachte es als Privileg, mir Werke im Sinne einer Erforschung anzueignen, ohne Zeitdruck, ohne konkretes Aufführungsprojekt. Für meinen eigenen Horizont ist mir das wichtig.“

Nicht nur Chaillys Ehefrau Gabriella stöhnt manchmal über diesen Hang zum Einsiedlertum. Sondern auch so manches Orchester, das gerne mit dem berühmten Maestro arbeiten würde. Wie das DSO. Dessen neuer Chefdirigent Robin Ticciati hatte jüngst erneut vergeblich versucht, seinen Vorvorvorvorgänger zu einem Projekt mit dem DSO zu überreden. In der ausnehmend freundlichen Art, die ihm eigen ist, erteilte Chailly dem Ensemble seiner frühen Triumphe allerdings eine Abfuhr. Den Musikerinnen und Musikern, die ihn mal wieder erleben wollen, bleibt also nichts Anderes übrig, als sich unter die Zuhörer in der Philharmonie zu mischen, wenn Chailly dort am Mittwoch mit den Mailändern auftritt. So wie damals, im Januar 1980.

Die Filarmonica della Scala gastiert am 13.9. beim Musikfest, weitere Informationen: www.berliner-festspiele.de

Frederik Hanssen

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