zum Hauptinhalt
Der Mensch fängt erst beim Leutnant an. Heinz Rühmann als „Der Hauptmann von Köpenick“ in der Regie von Helmut Käutner, 1956.
© picture alliance

Gesellschaft und Gerechtigkeit: Strammgestanden für den freien Markt

Einst prägte der Militarismus das Denken und Handeln in Deutschland. Heute brutalisiert ein uniformer Ökonomie-Jargon den öffentlichen Diskurs.

Carl Zuckmayer ist mir zum ersten Mal mit dem Film „Der Hauptmann von Köpenick“ begegnet. Meine Eltern waren begeistert, ich, damals sechzehn, hätte lieber einen amerikanischen Western gesehen, fand den Film dann aber doch ganz witzig. Erst Jahre später bekam das Stück für mich eine größere gedankliche Tiefenschärfe. Das Interessante ist: Der Produzent Gyula Trebitsch, ein wegen seiner Herkunft Verfolgter, hatte sich gegen eine Besetzung mit Rühmann ausgesprochen. Rühmann hatte ja eben noch, von Goebbels und Hitler als einer der „Gottbegnadeten“ gepriesen, in den Propagandafilmen „Wunschkonzert“ und „Quax, der Bruchpilot“ mitgespielt. Der Regisseur Helmut Käutner konnte sich jedoch durchsetzen. Der Film wurde ein großer, auch internationaler Erfolg. Die Besetzung mit dem Sympathieträger Rühmann kann man als einen geschickten Beitrag zur Verdrängung bzw. „Versöhnung“ mit einer Zeit sehen, in der Uniformen der Ausdruck von Macht, Geltung und vor allem Gewalt waren.

Nach dem Krieg wollte man nichts mehr von Uniformen wissen

Auch Rühmann war mit diesem Film von seiner Vergangenheit salviert. Ein Mentalitätswechsel hatte stattgefunden, keineswegs freiwillig, sondern als Folge der bedingungslosen Kapitulation. Nach dem verlorenen Krieg, nach all den Toten, den Verstümmelten, Ermordeten, wollte man nichts mehr von Uniformen, vom Militär wissen und wenn, dann nur ins Komische gebrochen.

Was bei der Uraufführung des Theaterstücks 1931 am Deutschen Theater Berlin noch zu heftigen Protesten und Pöbeleien in der nationalsozialistischen und nationalen Presse führte, wurde jetzt wie aus einer fernen Zeit kommend einvernehmlich beklatscht. Das liegt nicht nur an dem Bedeutungsverlust von Militär und Uniform, sondern eben auch an der Besetzung und an einer verschmitzt glättenden Inszenierung.

Das Stück fände sogar heute noch ein kritisches und nicht nur amüsiertes Interesse, würde es denn gegen die Gemütlichkeit des Happy Ends inszeniert. Eine List Zuckmayers ist ja, dass der deus ex machina, der die Begnadigung versprechende Kaiser, die Personifizierung des Uniformfimmels, mit seiner unter das Primat des Militärs gestellten Politik die Nation in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führen sollte.

Der Mensch fängt erst beim Leutnant an

Das Primat des Militärs und der Kodex des Adels waren, eine Folge der Reichseinigung durch die Bismarckschen Kriege, bestimmend für die Mentalität des Bürgertums, prägend für sein Selbstverständnis: der saubere Stammbaum, der Reserveleutnant, „der Mensch fängt erst beim Leutnant an, is nicht so?“, die schlagenden Verbindungen, die knappe Befehlssprache. Aus gutem Haus, hieß nicht nur gut situiert, sondern auch, aus nicht-jüdischem Haus zu sein. Pflicht, Gehorsam, Tapferkeit. Das Militärische prägte die Verhaltens- und Umgangsformen und es war auch auf eine fatale Weise für die Außenpolitik bestimmend. Das Militärische formierte die Gesellschaft, formte die Mentalität, bis in die Sprechweise hinein. Eine Sache um ihrer selbst Willen tun, Pflicht, Befehl und Gehorsam, Disziplin: Tugenden des Militärs, die tief in das zivile Leben eingedrungen waren und noch weit über das Kaiserreich hinaus bis in die Weimarer Republik hinein wirkten. Sie schlossen demokratische Tugenden wie Kritik, Selbstkritik oder gar zivilen Ungehorsam aus und führten dann letztlich auch dazu, dass die Republik von innen zerstört wurde.

Früher war es das Militär - heute ist es die Ökonomie

Carl Zuckmayer (1896–1977) neu lesend, drängt sich dieser Vergleich auf: Die Universalität des damaligen militärischen Diskurses, der alle Lebensbereiche dominierte und letztendlich zur Selbstzerstörung führte, findet heute seine Entsprechung in dem alles bestimmenden ökonomischen Denken, nach der Logik, was sich rechnet und was sich nicht rechnet, was profitabel ist und was nicht. Es mehren sich die kritischen Stimmen, die heute vor einem substantiellen Demokratieverlust warnen. Von Post-Demokratie ist die Rede.

Das Militärische spielt im Gegensatz zur Weimarer Zeit heute keine Rolle mehr. Die Wirtschaft prosperiert. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Pressefreiheit ist garantiert und wird praktiziert. Die Gerichte sind unabhängig. Es gibt keine bedeutende rechtsradikale Partei, wobei die paar tausend NPD-Mitglieder schon zu viele sind. Es wird so viel konsumiert wie noch nie. Uns geht es gut, heißt es.

Andererseits gibt es eine wachsende Zahl von Menschen, die in Armut leben, Hartz-4-Empfänger, Rentner, Kinderarmut. Nach dem Bericht der Unicef lebt jedes sechste Kind in Armut, hier, in Deutschland. Das Deutsche Kinderhilfswerk schätzt die Zahl der in Armut lebenden Kinder auf sechs Millionen. Die Welt dieser Millionen Menschen ist inzwischen – für die meisten von uns – zu einer Parallelwelt geworden. Hin und wieder stößt man auf sie, alte Männer beim Einsammeln von Pfandflaschen oder auf eine Schlange von Frauen und Männern vor einem kostenlosen Mittagstisch.

Systemrelevant, Wettbewerb, Wachstum - Aaach-tung!

Der Wettbewerb des freien Markts entfaltet aus seiner Logik heraus eine Autorität, die ähnlich wie früher die des Militärischen, alle Lebensbereiche umfasst und das politische Handeln und Denken bestimmt. Systemrelevant, Wettbewerb, Flexibilisierung, Wachstum erscheinen in der Sprache als Ausdruck von Sachzwängen, zeigen diese Form der Wirtschaft quasi als Naturgesetz. Den freien Markt als das entscheidende Movens unserer Gesellschaft zu sanktionieren und ihn mit der politischen Freiheit gleichzusetzen, führt dazu, dass permanent Ungleichheit generiert wird.

Das wirkt, da es keine Gegenmodelle gibt, als zwangsläufiger Prozess und verhindert eine Diskussion über Alternativen. Welche Gesellschaft wollen wir? Eine, die unter dem Diktat der Finanzwirtschaft steht, oder eine, die sich selbst bestimmen, die also auch über ihre emanzipativen Ziele, über Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit, das heißt Solidarität, verhandeln und entscheiden kann?

Eine Schieflage entsteht

Das alles ist nicht Neues? Wir kennen das? Richtig. Meine Frage ist, warum ändert sich dann nichts? Eines der demagogischen Argumente ist, wir alle hätten über unsere Verhältnisse gelebt. Nun gilt es, den Gürtel enger zu schnallen. Das Argument ist deshalb so dreist, weil es bewusst verschweigt, dass die Renten, gemessen an der Inflation, kaum gestiegen sind, dass in den letzten zehn Jahren der Reallohn sogar um 2 Prozent gefallen ist, dass andererseits eine Minderheit von 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland zwei Drittel des Gesamtvermögens besitzt. Der Unterschied zwischen Arm und Reich vergrößert sich Jahr um Jahr. Eine Schieflage entsteht. Wann kentert eine Gesellschaft, deren Reichtum wächst, die aber zugleich mehr Armut produziert?

Die Politikverdrossenheit, der Rückgang der Wahlbeteiligung und das Räsonieren haben gute Gründe. Politiker machen, was sie wollen, heißt es. Oder: Die können gar nichts ausrichten. Im Bundestag wird vor leerem Plenum von den Parteien das vorgetragen, was in Interviews und in den Talkshows schon durchgekaut wurde. So ist allen längst bekannt, was eigentlich als politische Willensbildung ins Parlament gehört. Auch längerfristige politische Strategien werden durch ein autoritär wirkendes System beeinflusst, durch die Demoskopie. Wenn es heißt, eine Erhöhung der Erbschaftsteuer sei nicht durchsetzbar, weil die Umfragen sagen, die Mehrheit der Wähler will das nicht, obwohl über neunzig Prozent davon gar nicht betroffen wären, dann ist das Demoskopiepolitik. Man müsste, was ja Aufgabe der Politik wäre, Überzeugungsarbeit leisten. Ohne diese Überzeugungsarbeit hätte es unter der SPD von Willy Brandt keine Ostverträge gegeben und unter Helmut Schmidt keine – höchst unpopuläre – Nachrüstung.

Alternative Modelle gesucht

Der tiefere Grund für die Politikverdrossenheit liegt nicht nur darin, wie ein Bundespräsident zu seinem Klein-Häuschen gekommen ist. Die Verdrossenheit hat ihren wahren Grund in dem Wissen von der bestimmenden Macht der Ökonomie und des kapitalistischen Finanzsystems gegenüber den demokratischen Parteien und der gewählten Exekutive, die damit ihre Autonomie verloren haben. Jedoch: Die Paradigmen der Ökonomie sind keine Naturgesetze, wie es sich im Bewusstsein verfestigt hat, sondern sie sind bestimmbar und veränderbar. Hilfreich wäre, wenn all die klugen Ökonomen mit ihren computergestützten Modellen ihr Fach nicht nur als Optimierungswissenschaft verstehen würden, sondern mehr und weiter an alternativen Modellen arbeiten würden. Man sage nun nicht gleich, das sei Sozialismus und Kommandowirtschaft. Es reichte ja, Modelle zu entwickeln, die diesen Wildwuchskapitalismus erst einmal beschneiden. Die Finanztransaktionssteuer wäre so ein Beispiel. Dass sie so lange als das Ende der deutschen Börse, ja der Prosperität verschrien war, beweist nur, wie gut das profitfreundliche ideologische Abwehrsystem funktioniert hat.

Einübung von Solidarität

Die Entwicklung solcher Modelle wäre auch eine Einübung von Solidarität. Steuern als das zu sehen, was sie sind, lästig aber notwendig, wenn sie denn der Allgemeinheit zugute kommen und nicht wiederum private Interessen bedienen. Auch die Erhöhung von Steuern, nicht der Verbrauchersteuern, sondern der Einkommenssteuer und insbesondere der Erbschaftssteuer, gehört dazu.

Es wäre der Versuch, einen solidarischen Sinn für die Verhältnismäßigkeit in der Gesellschaft zu entwickeln. Einmal abgesehen von den Fantasiegehältern der Banker und deren Boni: Die Ungleichheit findet sich in der Alltagswelt der Angestellten, in der ein Finanzwirt durchschnittlich dreimal so viel verdient wie ein Klinikarzt im gleichen Berufsjahr und fünfmal so viel wie eine Krankenschwester. Das ist keine Neid-Diskussion, sondern eine Debatte über Gerechtigkeit und Zumutbarkeit in der Gesellschaft.

Uwe Timm lebt als Schriftsteller in München. Zuletzt erschien von ihm die Novelle „Freitisch“. Vergangene Woche erhielt er die Carl- Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Der Text ist eine leicht gekürzte Fassung seiner Preisrede.

Uwe Timm

Zur Startseite