Sensationeller Kunst-Fund in München: Stille Reserve zwischen Konservendosen
Picasso, Mattisse, Beckmann – gelagert zwischen Konserven und selbstgebauten Regalen. Die Bilderkollektion aus München gilt als Sensationsfund. Man hielt die Werke für verschollen. Der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt hinterließ sie seinem Sohn – wissen durfte davon niemand.
Die Geschichte beginnt damit, dass ein älterer Herr nervös wird. Auf der Bahnfahrt von Zürich nach München gerät er in eine Routinekontrolle des Zolls. Den Beamten legt er 18 druckfrische 500-Euro-Scheine vor.
Aber damit hätte die Geschichte nicht beginnen müssen, die Ausfuhr einer solchen Menge Geld ist legal. Erst ab 10 000 Euro greift der Fiskus ein. Doch der Mann erwähnt die Galerie Kornfeld, zu der er in die Schweiz gereist sei, und das macht die Fahnder stutzig. Sie bleiben an ihm dran, denn an dem 76-Jährigen ist einiges merkwürdig: Er ist Träger eines berühmten Namens und doch nirgendwo gemeldet. Der Sohn des einstigen Museumsmannes und Galeristen Hildebrand Gurlitt, der für die Nationalsozialisten so genannte „entartete Kunst“ ins Ausland verkaufte und für das Führer-Museum in Linz Genehmes besorgt hatte, soll in Kunstgeschäften unterwegs sein? Wenn das mit rechten Dingen zugeht.
Möglich, dass schon damals, vor zwei Jahren, ein erster Verdacht auf etwas Größeres aufkeimt. Der Durchsuchungsbefehl für die Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt jedenfalls lautet nicht auf Kunstvergehen welcher Art auch immer, sondern auf Verdacht der Steuerhinterziehung. Und auch jetzt noch ist dieses vergleichsweise gewöhnliche Delikt der Dreh- und Angelpunkt, mit dem die Behörden erst einmal Zugriff behalten auf einen der wohl spektakulärsten Kunstfunde der Nachkriegszeit in Privatbesitz.
Was sich den Beamten im Frühjahr 2011 in der Schwabinger Wohnung bietet, ist erstaunlich. Hunderte Bilder der Klassischen Moderne finden sich dort auf selbst gebauten Regalen zusammen mit gehorteten Lebensmitteln, Konservendosen. 1500 Werke sind es insgesamt. Schon heißt es: Gesamtwert über eine Milliarde Euro. Die Fahnder sind hier auf einen Schatz gestoßen, mit dem über fünfzig Jahre nach Kriegsende nicht mehr zu rechnen war. Die im „Dritten Reich“ aus Museen und privaten jüdischen Sammlungen konfiszierten Werke von Beckmann, Picasso, Chagall, Matisse und Klee galten längst als verloren, die Familie des Kunsthändlers hatte die Spur verwischt.
Als Hildebrand Gurlitt 1956 bei einem Verkehrsunfall starb, hinterließ er Sohn und Frau eine sagenhafte Bilderkollektion, von der niemand wissen durfte, um sie vor dem Zugriff der Behörden zu schützen. Noch in den Sechzigern erklärte Helene Gurlitt, die Witwe des Kunsthändlers, im Dresdner Feuersturm sei alles verbrannt, selbst die Geschäftsunterlagen ihres Mannes. Damit verlor sich für die Fahnder auf der Suche unter anderem nach einer Spitzweg-Zeichnung aus der Sammlung von Henri Hinrichsen die Spur. Diese durch den Münchner Fund offenbar gewordene Lüge – neben den vermeintlich verbrannten Papieren tauchte auch der Spitzweg wieder auf – könnte jetzt die einzige Handhabe sein, die Bilder zu ihren einstmaligen Eigentümern zurückkehren zu lassen. Denn Cornelius Gurlitt ist bislang rechtmäßiger Besitzer all der Werke. Juristisch wird nun geprüft, ob durch die Falschaussage die Eigentumsrechte verwirkt wurden. Andernfalls müsste jeder Nachfahr früherer Besitzer einzeln mit Gurlitt in Verhandlung treten und auf spätes Einsehen in das einst begangene Unrecht hoffen.
Alle hatten dichtgehalten. Auch die Bundesregierung
Der Coup der Zollfahnder könnte nun zum juristischen Streit werden. Aus dem durch einen „Focus“-Bericht öffentlich gewordenen Sensationsfund ist jedenfalls in den vergangenen anderthalb Jahren ein eigenes Forschungsprojekt geworden, seit die Polizei aus Gurlitts Schwabinger Wohnung die Werke mithilfe eines Kunsttransporteurs über mehrere Tage hinweg in ein Zolllager in München-Garching bringen ließ. Schon bald nachdem die Dimension des Fundes deutlich geworden war, stieß die Berliner Kunsthistorikerin Meike Hoffmann hinzu. Die ausgewiesene Expertin ist Projektkoordinatorin bei der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin, die erst jüngst ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Möglich, dass ein Hinweis der Wissenschaftlerin im 2013 erschienenen Jubiläumsband auf „umfangreiche, bisher unbekannte Aktenbestände“ die Neugierde der Reporter weckte. Schließlich ist über Gurlitt als einen der vier Händler, die offiziell von den Nationalsozialisten mit der Verwertung von „Entarteter Kunst“ betraut worden waren, bislang am wenigsten bekannt. Über Ferdinand Möller, Karl Buchholz und Bernhard A. Böhmer wurde bereits intensiv geforscht. Über alle drei gibt es Dissertationen, ausführliche Publikationen. Nur Gurlitt war bislang das unbeschriebene Blatt, die Familie versperrte sich den Anfragen der Wissenschaftler, heute weiß man auch warum.
Für Meike Hoffmann ist die Ruhe der Recherche jedenfalls nun dahin. Die bislang bewahrte Geheimhaltung aufgrund eines schwebenden Verfahrens wegen Steuerhinterziehung hatte ihr den Rücken freigehalten. Die Berliner Forscherin reagierte erstaunt darauf, dass Teile ihres Gutachtens vorab an die Öffentlichkeit geraten sind. Sie will sich am Dienstag im Strafjustizzentrum Augsburg erklären, zusammen mit Vertretern der Staatsanwaltschaft. Der Termin wurde allem Anschein nach vom Justizministerium anberaumt, um die Spekulationen nicht weiter gedeihen zu lassen.
Bislang hatten alle dichtgehalten. Auch die Bundesregierung war seit mehreren Monaten eingeweiht, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Auf ihre Vermittlung hin wurden die Experten hinzugezogen, die sich mit „entarteter Kunst“ und von den Nationalsozialisten geraubter Kunst auskennen, um die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Augsburg zu unterstützen, sagte er.
Mit Spannung wird nun erwartet, was wirklich hinter dem Fund steckt. Schon jetzt ist bekannt, dass ein Fünftel der aufgespürten Bilder als „entartete Kunst“ den Museen enteignet worden ist, weitere 200 Stück wurden auf Listen „verlorener“ Kunst identifiziert, die einst meist jüdischen Sammlern gehörten. Schon werden warnende Stimmen laut, dass nicht alles Hauptwerke sein können, sondern sich vielfach auch kleinere Skizzen oder bedeutungslose Grafiken unter den 1500 konfiszierten Werken befinden dürften. Die Hoffnung jedenfalls wird genährt, dass sich Informationslücken schließen. Für die „Lost-Art-Datenbank“ mit Sitz in Magdeburg dürften sich damit einige schon aufgegebene Fälle endlich klären. Zurückkehren werden die Stücke damit allerdings noch nicht, denn die rund 20 000 Werke, die von den Nationalsozialisten 1937 im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ konfisziert wurden, befanden sich zum größten Teil in öffentlicher Hand. Sie gelten als legal verkauft, da sie damals dem Staat gehörten und dieser das Versilbern der Kunst offiziell beauftragt hatte. Das „Washingtoner Abkommen“ von 1998 ist nur eine Erklärung guten Willens, geraubte Kunst auch nach Ablauf gesetzlicher Fristen zurückzugeben. Machtlos stehen durch das Einziehungsgesetz von 1938 auch die privaten Sammlungen da. Nach Kriegsende hatten sich die Alliierten gegen die Aufhebung dieses Gesetzes entschieden, um Käufern auf dem Kunstmarkt Rechtssicherheit zu geben.
Die Unterscheidung zwischen „entarteter Kunst“, Raub- und Beutekunst wird nicht leicht
Die Vergangenheit ragt damit dramatisch in die Gegenwart hinein. Größere Rechtsstreitigkeiten auch um die jetzt gefundenen Werke dürften nicht lange auf sich warten lassen. So ist schon jetzt bekannt, dass ein Werk des Pariser Kunsthändlers Paul Rosenberg unter den Funden ist. Zuletzt war ein Max Beckmann aus der Sammlung Alfred Flechtheims im Handel aufgetaucht. Die Erben hatten sich mit Gurlitt offenbar geeinigt, so dass das zunächst aus der Auktion zurückgezogene Gemälde doch noch versteigert werden konnte: 864 000 Euro lautete das Ergebnis für Beckmanns „Löwenbändiger“, bei dem ein guter Teil bei Gurlitt geblieben sein dürfte.
Zu den weiteren Recherchen gehört es nun, herauszufinden, welche Bilder Gurlitt noch verkaufte und wohin. Denn die Fahnder entdeckten in seiner Wohnung nicht nur kostbare Werke, sondern auch so manchen Rahmen, aus dem offensichtlich Leinwände herausgeschnitten wurden. Die Rolle des heutigen Kunsthandels erscheint vor diesem Hintergrund ebenfalls dubios. Vielfach wird nicht genauer nach der Provenienz gefragt, um sich das Geschäft nicht zu verderben.
Das Terrain bleibt vermint, wenn nicht bald Aufklärung gelingt. Mit den neuesten Entdeckungen könnte es nun dazu kommen. Der von den Nazis für den Verkauf „entarteter Kunst“ eingesetzte Hildebrand Gurlitt muss heute als die zwielichtigste Figur unter den insgesamt vier installierten Zwischenhändlern erscheinen. Eine ambivalente Rolle spielten alle vier, denn die Moderne war bislang ihr Terrain, und mit dem Verkauf der Kunst versuchten sie vielfach auch zu retten. Häufig lässt sich die Grenze nicht eindeutig ziehen, wann die Händler auch zu ihrem eigenen Nutzen operierten, wann sie halfen. Bei Gurlitt allerdings überschneiden sich die verschiedenen Formen des inkriminierten Umgangs mit Kunst. So erwarb er etwa in Frankreich Werke für das Linzer Führer-Museum, vieles im Tausch mit Kunst aus dem ehemaligen Besitz jüdischer Sammler. Er hatte freien Zugang zu den Berliner Speichern und Depots, wo die Nazis ihre konfiszierten Werke lagerten, um sie weiter zu verwerten. Die Unterscheidung wird in diesem Fall womöglich nicht immer ganz leicht fallen zwischen „entarteter Kunst“, Raub- und Beutekunst.
Da ist ein gutes Zeichen, dass die Berliner Expertin Meike Hoffmann mit ihrer Forschungsstelle von einer Stiftung unterstützt wird, die nicht von ungefähr auf den Nachlass eines der vier von den Nazis eingesetzten Kunsthändler zurückgeht: Ferdinand Möller, einst einer der wichtigsten Expressionismus-Händler in Deutschland, veräußerte als „Treuhänder“ der Nazis ungeliebte Kunst ins Ausland. Entgegen den offiziellen Anweisungen verkaufte er die Bilder häufig jedoch nicht, sondern bewahrte sie auf seinem von Scharoun erbauten Landsitz bei Neuruppin vor dem weiteren Zugriff. Als er nach Kriegsende nach Köln ging, blieben Leihgaben im Museum Moritzburg in Halle. Mitte der 90er wurden sie restituiert. Seine Tochter Angelika Fessler-Möller gab das Geld in eine nach ihrem Vater benannte Stiftung, die Forschungsprojekte zur „entarteten Kunst“ unterstützt.
Wie es in dem Fall Gurlitt weitergehen wird, ist offen. Dass dem vollkommen zurückgezogen in München lebenden Sohn des Kunsthändlers die Zügel entglitten sind, zeigte sich deutlich auch am Zustand der Wohnung. Die Beschlagnahmung der Bilder ließ er über sich ergehen und kommentierte sie nur damit, dass er sie nach seinem Tod ohnehin dem Staat überlassen hätte.
Nicola Kuhn
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