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Einblick in die Moderne. 1937 eröffnete in München die Ausstellung „Entartete Kunst“. In einer Münchener Wohnung gefundene Bilder gehören teilweise zu den damals von Nationalsozialisten beschlagnahmten 21 000 Werken aus deutschen Museen.
© bpk / Arthur Grimm

Sensationeller Fund in München: Rentner hortete 1500 geraubte Meisterwerke

Zollfahnder haben in München einen unvorstellbaren Kunstschatz der klassischen Moderne entdeckt: Rund 1500 verschollen geglaubte Gemälde von Picasso, Matisse und anderen lagen in der vermüllten Wohnung eines 80-Jährigen - darunter auch Werke, die von den Nazis beschlagnahmt worden waren.

In den verdunkelten, vermüllten Räumen eines Apartments in München Schwabing haben Zollfahnder einen unvorstellbaren Kunstschatz entdeckt: Rund 1500 bislang verschollen geglaubte Gemälde sollen dort auf selbst gezimmerten Regalen gelagert worden sein – darunter Werke von Pablo Picasso, Henri Matisse, Marc Chagall, Emil Nolde, Franz Marc, Max Beckmann oder Max Liebermann. Die geheime Beschlagnahme hat sich nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Focus“ bereits im Frühjahr 2011 abgespielt. Seitdem lagern die Meisterwerke der klassischen Moderne in einem Sicherheitsdepot des Zolls in Garching bei München. Ihr Wert soll bei rund einer Milliarde Euro liegen.

Auf die Spur der Bilder kommt der Zoll durch eine zufällige Bargeldkontrolle in der Bahn zwischen der Schweiz und München. Im September 2010 muss der heute 80-jährige Cornelius Gurlitt eine auffällige Summe mit sich geführt haben. Die Fahnder beginnen zu recherchieren. Dabei dringen sie in die Vergangenheit ein, die sie zurückführt bis zur „Entarteten Kunst“ in der nationalsozialistischen Diktatur. Ohne Entschädigung hatte das NS-Regime 1937 unliebsame Kunst beschlagnahmt und versucht, diese im Ausland zu verkaufen. Im Auftrag des Propagandaministeriums wickelten Kunsthändler diese Geschäfte ab, unter ihnen auch der Vater von Cornelius Gurlitt.

Der Kunsthistoriker und Kunsthändler Hildebrand Gurlitt verliert 1930 seine Stelle als Direktor des Zwickauer Museums. Er hatte sich für die Moderne starkgemacht, was ihm viel Ärger einbrachte. Dennoch und obwohl Gurlitt nach den NS-Rassegesetzen kein „reiner Arier“ war, bedienten sich die Nazis seiner Fachkenntnisse. Es soll Werke für das geplante Führermuseum beschaffen und „entartete Kunst“ ins Ausland verkaufen. Bekannt ist, dass Gurlitt seine Position nutzte, entgegen des Auftrags beschlagnahmte Kunstwerke auch an Sammler in Deutschland zu verkaufen, etwa an die Sammlung Sprengel. Oder für sich zu behalten. Der Verbleib vieler Kunstgegenstände der „Verwertungsaktion“, in deren Rahmen auch Gurlitt Tausch- und Kaufgeschäfte abwickelte, ist noch immer ungeklärt.

Sohn Cornelius Gurlitt soll nach „Focus“-Informationen davon leben, im Laufe der Zeit Gemälde verkauft zu haben. Der Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft Augsburg sagte dem Tagesspiegel: „Es handelt sich um ein Steuerverfahren.“ Aufgrund des Persönlichkeitsschutzes würden deshalb keine weiteren Auskünfte erteilt. Diese Linie der Informationspolitik werde die Behörde auch beibehalten. Das Hauptzollamt München, das den Fund gemacht haben soll, verweist auf die Augsburger Staatsanwälte. Vom bayerischen Kunstministerium war keine Stellungnahme zu erhalten.

Auch nach der Razzia soll Gurlitt zumindest ein weiteres Gemälde zur Versteigerung gebracht haben, ein Werk von Max Beckmann, das 864 000 Euro über das Auktionshaus Lempertz in Köln einbrachte. Die Behörden haben die Beschlagnahme von Schwabing bis heute geheim gehalten – und hätten dies wohl noch weiter getan, um beim sensiblen Thema Raubkunst in Ruhe zu klären, womit sie es eigentlich genau zu tun haben.

Seit anderthalb Jahren arbeitet die Berliner Kunsthistorikerin Meike Hoffmann daran zu ermitteln, woher die Bilder aus Gurlitts Apartment stammen, wie sie dem Tagesspiegel bestätigte. Hoffmann ist Projektkoordinatorin der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der Freien Universität Berlin. Zunächst nicht kommentieren wollte sie Berichte, nach denen mindestens 300 Werke aus der Beschlagnahme zur „entarteten Kunst“ gehören sollen und für die wenigstens 200 offizielle Suchmeldungen vorliegen.

Die Forschungsstelle versucht seit zehn Jahren den Verbleib von beschlagnahmten Werken zu ermitteln, auch derjenigen, die 1937 in der berühmten Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt worden sind. In einer einmaligen Datenbank machen die Berliner Forscher ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich. Rund die Hälfte der etwa 21000 Objekte sind dort bereits dokumentiert. 2010 machten Skulpturen Schlagzeilen, die zu den vermissten Werken gehören. Sie wurden nämlich an der U-Bahn-Baustelle nahe dem Roten Rathaus in Berlin entdeckt – und inzwischen öffentlich gezeigt.

Zu den jetzt entdeckten Werken soll nach „Focus“-Informationen auch ein Bild von Henri Matisse gehören, das einst dem jüdischen Sammler Paul Rosenberg gehört hatte. Rosenberg musste vor seiner Flucht aus Paris seine Sammlung zurücklassen. Seine Enkeltochter Anne Sinclair, die Frau des ehemaligen Chefs des Internationalen Währungsfonds (IWF) Dominique Strauss-Kahn, kämpft seit Jahrzehnten um die Rückgabe der von den Nazis gestohlenen Bilder. Von einem jetzt aufgetauchten Frauen-Porträt von Matisse wusste Anne Sinclair bis heute nichts.

Eines ist schon jetzt sicher: Der Fund von Schwabing wird noch viel Staub aufwirbeln – auch in Museen und Privatsammlungen.

Ulrich Amling, Dagmar Dehmer, Patrick Guyton

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