Filmkritik "Vor der Morgenröte": Stefan Zweig im Exil - verloren in den Tropen
Einen leisen Coup hat die Regisseurin Maria Schrader da gelandet - mit ihrem Film „Vor der Morgenröte“ über die letzten Lebensjahre des Stefan Zweig.
Wenn etwas half, die leidige Schullektüre von Stefan Zweigs „Schachnovelle“ im Langzeitgedächtnis zu bewahren, dann war dies seine eindringliche Schilderung einer Existenz am Abgrund. Maria Schraders Film „Vor der Morgenröte“, eine episodische Erkundung von Stefan Zweigs letzten Lebensjahren im amerikanischen Exil, zieht frei von der Erklärungswut gängiger Prominenten-Biografien diskrete Parallelen zur verzweifelten Situation des Schriftstellers, der sich 1942 in Brasilien das Leben nahm.
„Schachnovelle“ erzählt von einem Österreicher, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Isolationsfolter eines Gestapo-Gefängnisses entkommt. Ausgerechnet im müßig luxurierenden Ambiente des Passagierschiffs, das ihm die Flucht nach Amerika ermöglicht, wird er aber mit seinem vom Wahnsinn gezeichneten Selbst konfrontiert. Die zermürbende Haft überlebte der Mann ohne Verrat, indem er sich in imaginären Schachpartien übte, sich in zwei strategische Gegner aufspaltete und so seine geistige Regsamkeit erhielt.
Angst, Depression und Schizophrenie
Auf dem Dampfer begegnet ihm nun ein echter Schachchampion und mit ihm die Zeitlichkeit des Spiels, zudem ein kalt den eigenen Vorteil kalkulierender Gegner und eine Runde leidenschaftlicher Voyeure – lebensnahe Realien mithin, die dem Einsamen umso dramatischer die Wiederkehr seiner Angst und Schizophrenie vor Augen führen.
Das Drehbuch zu Maria Schraders Film, das die Regisseurin gemeinsam mit Jan Schomburg schrieb, greift das Momentum solcher Zerrissenheit auf, ohne den psychologisierenden Zungenschlag heutiger Biopics nachzuahmen. „Vor der Morgenröte“ dringt in die seelische Befindlichkeit Stefan Zweigs ein, soweit sie in Briefen und Reden sowie seiner in Brasilien verfassten Autobiografie „Die Welt von gestern“ und durch Äußerungen von Zeitzeugen dokumentiert ist.
Der Film konzentriert sich auf wenige Episoden seiner Exiljahre und schafft es so, den widersprüchlichen Regungen des Schriftstellers im Umgang mit seinen Nächsten und den zu ihm dringenden Nachrichten aus Europa Raum zu geben. Er nimmt einen mit in die Welt eines Kosmopoliten ohne Geldsorgen, der in Brasilien und Argentinien als Künstler verehrt wird. In einer leuchtend tropischen Landschaft will er sich in die Schriftsteller-Arbeit zurückziehen und kann dem Grauen jedoch nicht entfliehen.
Josef Hader verkörpert den leidenden Schriftsteller buchstäblich
Der österreichische Kabarettist und Schauspieler Josef Hader verkörpert diesen Mann, der seine gebeugte Haltung bewahrt, buchstäblich; eine historische Figur scheint er sich dabei gar nicht erspielen zu müssen. Einmal sieht man während einer Autofahrt die blühende Landschaft auf der Scheibe an ihm vorüberziehen, während sein kaum merkliches Lächeln den Abschied vorwegnimmt.
Stefan Zweig, der sich zeitlebens als „Jude aus Zufall“ sah, geriet als erklärter Pazifist 1934 ins Visier der Austrofaschisten und floh zunächst ins Exil nach England. 1939 ging es schließlich über New York nach Südamerika, das er als gefeierter Künstler bereits mehrmals besucht hatte.
In einer der Episoden rekonstruiert „Vor der Morgenröte“ das internationale Schriftstellertreffen 1936 in Buenos Aires, bei dem Stefan Zweig entgegen den Appellen seiner Kollegen für sich kategorisch auf der Trennung von Kunst und Politik besteht. Charly Hübner brilliert in dieser Szene als exilierter Schriftsteller Emil Ludwig in einer furiosen, in voller Gänze inszenierten Rede mit dem Aufruf zur politischen Parteinahme der versammelten Künstler gegen den Faschismus.
Ein historischer Flüchtlingsfilm, verblüffend aktuell
Wie widersprüchlich die skeptische Haltung Stefan Zweigs bis zu seinem Freitod war, nehmen weitere Episoden in den Blick. Zweig besucht mit seiner zweiten Frau Lotte eine Zuckerrohrplantage, nimmt müde die Honneurs der Provinzeliten entgegen und sucht alsbald das Weite. Eine kurze Szene zuvor, in der er für sich allein Notizen macht und die Atmosphäre in sich einsaugt, weist auf ein Buch voraus, in dem er das damals diktatorisch regierte Brasilien als Land der Zukunft feierte – wohl auch, um für sich und seine Frau ein Dauervisum zu erlangen, das ihm das Leben in Petropolis, nicht weit von Rio de Janeiro, ermöglichen sollte.
Eine nicht zuletzt schauspielerische Konfrontation stellt die Begegnung Stefan Zweigs/Josef Haders mit Barbara Sukowa in der Rolle seiner geschiedenen ersten Frau Friderike 1940 in New York dar. Die ihm freundschaftlich verbundene Ex-Gattin hatte Amerika mit ihren Töchtern durch seine Hilfe erreicht. Und bei ihr kommen nun die Bittbriefe ihrer Freunde und Bekannten an, für die der in Amerika etablierte Zweig sich unbedingt einsetzen möge.
„Vor der Morgenröte“ stellt die Frage des Engagements für politische Flüchtlinge neu – aus einer historischen Perspektive heraus. Der Regisseurin Maria Schrader ist eine intensive visuelle Erzählung mit großen Schauspielern gelungen, ein unerwartet aktueller Film.
In Berlin in den Kinos Blauer Stern Pankow, Capitol, Delphi, FaF, Hackesche Höfe, International, Yorck
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