Zur Wahl der Theater des Jahres: Spiele und Grenzen
„Theater heute“ verteilt seine Lorbeeren. Ein Blick in das Jahrbuch zeigt: 2016 ist das Jahr der politischen und künstlerischen Entgrenzung und Grenzverschiebung. Ein Kommentar.
Immer beginnt die Theatersaison mit einem Rückblick auf das Vergangene oder Vergehende, das Jahrbuch ist da. „Theater heute“ hat gewählt, die gut vierzig Kritiker und Kritikerinnen haben ihre Favoriten benannt. Keine große Überraschung: Theater des Jahres ist die Volksbühne. Das Haus zeigte sich in guter Spätform, und jetzt beginnt das letzte Castorf-Jahr. Und weil dann der von vielen ungeliebte Chris Dercon kommt, wird die Volksbühne – wetten? – auch 2017 Theater des Jahres. Bei der Titelvergabe schwingt immer Kulturpolitik mit und allgemeine Befindlichkeit. Und da muss man schon sagen, dass das Gorki-Theater die gesellschaftliche Stimmung am besten auffängt: Es ist ebenfalls Theater des Jahres, wie schon im Vorjahr. Große Leistung! Yael Ronens „The Situation“, auch ein Gorki-Produkt, ist Stück des Jahres.
Berlin also wieder ganz einsam vorn? Doch nicht. Der Schauspieler des Jahres, Edgar Selge, wurde für seinen Hamburger Houellebecq-Monolog ausgezeichnet, Caroline Peters gewinnt den Titel für ihre Rolle im Wiener „John Gabriel Borkman“, der auch Inszenierung des Jahres ist. Der Regisseur heißt Simon Stone und hat in Berlin noch nicht gearbeitet.
Kampfgeist und Ungewissheit
Das Jahrbuch aber ist – zumal in dieser Ausgabe – weit mehr als die Feier der Gefeierten. Es widmet sich dem Thema „Grenzen“, meint also Entgrenzung, Grenzverschiebung, politisch, künstlerisch. Dazu schrieb Johan Simons, Intendant der Ruhr-Triennale, einen langen Essay, der Anwalt und fleißige Theatergänger Peter Raue denkt über „Die Grenzen der Gesetze und die Freiheit der Kunst“ nach, Sasha Marianna Salzmann singt ein hohes Lied auf die Gorki-Chefs Shermin Langhoff und Jens Hillje, und Ersan Mondtag, Nachwuchsregisseur des Jahres, führt durch sein Kreuzberg. Erfreulich: ein Porträt des Volksbühnen-Helden Frank Büttner, der zwar häufig und sehr lange auf der Bühne steht, aber selten gewürdigt wird. Er lässt sich offenbar von nichts verdrießen, auch nicht von der Volksbühnenveränderung.
Viele Probleme, große Unruhe – wie umgehen mit Flüchtlingen, Migration – überhaupt, was macht das alles mit dem Theater, was heißt jetzt politisches Theater? Das Jahrbuch 2016 spiegelt diese Mischung aus Kampfgeist und Ungewissheit, Neugier und Furcht, die nicht nur an den Bühnen zu finden ist.
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