Gespräch mit Gefühlshistorikern: Sind wir die Angsthasen Europas?
Die Deutschen gelten als besonders furchtsam. Das hat Gründe. Ein Gespräch mit den Gefühlshistorikern Frank Biess und Bettina Hitzer über die Angst als Politikum.
Frau Hitzer, Herr Biess, Sie forschen als Historiker zur Geschichte der Emotionen. Herr Biess, gibt es ein typisch deutsches Gefühl – etwas, das unsere europäischen Nachbarn so nicht empfinden?
FRANK BIESS: In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Deutschland Ungewissheit darüber, wie die Zukunft aussehen könnte. Das lag an der Gegenwart der Erinnerung an Krieg und NS-Zeit. Meine Forschung ergibt: Die Furcht davor, dass sich die Vergangenheit in irgendeiner Form wiederholt, war bis in die achtziger Jahre sehr präsent. Das, was man mit German Angst beschreibt, ist also tatsächlich etwas spezifisch Deutsches. Eine kritische Außenzuschreibung, aber ich sehe es auch als Selbstzuschreibung der Deutschen.
Ist das nicht ein totales Klischee: der hysterische, deutsche Bedenkenträger?
BETTINA HITZER: Vielleicht hilft es zu schauen, woher die German Angst kommt. Kierkegaard und Heidegger hatten den Begriff der Angst ins Zentrum ihrer Philosophie gestellt, als ein allgemeines existenzielles Grundgefühl, das damit zu tun hat, dass ich sterblich bin. Das ließ sich nicht angemessen übersetzen, das Wort „Angst“ wurde deshalb ins Englische übernommen. Aus dieser existenzphilosophischen „Angst“ wurde in den achtziger Jahren nach angloamerikanischer Sicht die German Angst: eine zögerliche, überbesorgte, schwarzseherische Haltung gegenüber technologischem Fortschritt und Kriegsgefahr. Diese Herkunftsgeschichte deutet an, wie problematisch der Begriff ist: Ob es richtig ist, Reaktorsicherheit ernst zu nehmen, nach Fukushima aus der Atomenergie auszusteigen, ob Fahrradhelme oder Vorsorgeuntersuchungen sinnvoll sind, wird auf der Sachebene gar nicht mehr diskutiert. Denn das alles ist ja nur Ausdruck der German Angst!
Herr Biess, Sie schreiben derzeit ein Buch über die Angstgeschichte der alten Bundesrepublik. Welches waren denn die großen Angstmomente?
BIESS: Ich habe einige Angstzyklen identifiziert, wobei das bestimmt nicht alle sind. Zunächst war da ab 1945 die Angst vor der Vergeltung durch die Alliierten. Nicht nur vor den Russen. Man fürchtete die Rache eines „Weltjudentums“, dessen Instrumente die Amerikaner wären. Dann gab es Anfang der Fünfziger eine Art moralische Panik hinsichtlich der Gefahren für die Jugend, die Angst vor Rock’n’Roll oder vor der angeblichen Entführung junger deutscher Männer in die französische Fremdenlegion. Die Werber wurden oft als homosexuell porträtiert, da spielte Homophobie eine Rolle. Dann die Angst vor einem Atomkrieg und der – weitgehend gescheiterte – staatliche Versuch, diese einzudämmen: Man denke an die berühmte Aktentasche über dem Kopf im Fall eines Ausbruchs.
In den Sechzigern, auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders und der außenpolitischen Integration in die Nato, hätten die Ängste doch abnehmen müssen?
BIESS: Das sollte man annehmen, aber ich argumentiere, dass die Stabilisierung eigene Ängste produziert. Nämlich die Frage, wie tief verankert die Demokratisierung ist. Durch die NS-Prozesse kehrt zu dieser Zeit die Erinnerung an das Dritte Reich zurück, man erkennt, wie viele Naziverbrecher noch inmitten der Gesellschaft leben. Dann gab es eine Debatte um Automatisierung und die Sorge, dass bald alle Arbeitsplätze von Maschinen übernommen werden. Daran knüpfte sich die Erinnerung an den technologischen Fortschritt zu Zeiten der Weimarer Republik und die Furcht, dass Massenarbeitslosigkeit erneut zu einem autoritären Regime führen würde. Das entlädt sich dann in den Siebzigern in Moderneskepsis: Aufstieg der Grünen, Umweltbewegung.
Man könnte argumentieren, die Deutschen seien nur besonders weitsichtig. Und ihre Angst nichts Schlechtes.
HITZER: In der Friedensbewegung, der größten sozialen Bewegung der alten Bundesrepublik, wurde „Fürchtet euch!“ zum Motto auf Flugblättern und Plakaten. Angst war tatsächlich positiv konnotiert, als ein Gefühl, das die Sinne schärft, wachsam macht. „Die letzten Kinder von Schewenborn“, Gudrun Pausewangs Roman von 1983, in dem sie das Szenario eines Deutschland nach einem Atomkrieg entwickelt, wurde als plausible Zukunftsvision betrachtet. Dass sie nicht eintraf, hieß nicht, dass man hysterisch gewesen war, sondern dass die Vorsorge Erfolg gehabt hatte. Angst war zu dieser Zeit auch ein wichtiges Element der politischen Mobilisierung.
BIESS: In der unmittelbaren Nachkriegszeit war das noch ganz anders. Da wurde Angst gleichgesetzt mit Irrationalität, den manipulierten Massen, die Hitler hinterhergelaufen waren. In den Fünfzigern gab es ja auch eine Bewegung, die sich gegen die nukleare Bewaffnung der Bundeswehr richtete. Die formulierte ihren Protest bewusst rational, sachlich, nüchtern. Demonstranten traten in Anzug und Krawatte auf, statt wie später in den Achtzigern in KZ-Kleidern theatralisch einen Atomangriff nachzuspielen. Das mag auch daran liegen, dass die Menschen so viel Leid erlebt hatten, dass es existenziell notwendig war, Emotionen von sich fernzuhalten.
Soziologen wie Heinz Bude sprechen davon, dass Angst heutzutage das vorherrschende Gefühl in westlichen Gesellschaften sei.
HITZER: Die Vorstellung von einer Gesellschaft der Angst ist nicht so neu, wie wir denken. Dieser Befund stimmt gegenüber der Zeitdiagnose einer „Gesellschaft der Angst“ etwas skeptisch: Das Gedicht von W.H. Auden, „Age of anxiety“, wurde bereits 1947 zu einer Selbstbezeichnung vieler Zeitgenossen. Jean Delumeau hat 1988 in „Angst im Abendland“ die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts untersucht. Aufschlussreicher als die Frage nach einer Zu- oder Abnahme des allgemeinen Angstniveaus erscheint mir als Historikerin die Frage, wie Ängste sich verändern und wie die Gesellschaft mit Ängsten umgeht.
BIESS: Ich bin mir nicht sicher, ob Angst heute hier wirklich das dominierende Gefühl ist. Wenn man sich die Reaktionen auf die Krisen der Berliner Republik ansieht, die Finanzkrise oder der terroristische Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin, dann ist das relativ besonnen, von einigen Ausnahmen abgesehen. Hier in den USA, wo ich lebe und forsche, ist Angst viel präsenter – natürlich befördert von Donald Trumps Angstpolitik. Normalerweise bemühe ich mich bei meiner Arbeit, nicht zu bewerten, ob Ängste legitim sind, aber als betroffener Beobachter finde ich: Hier gibt es tatsächlich Grund zur Angst. Trump ist mit einer eindeutig rassistisch motivierten Kampagne zum Präsidenten gewählt worden. Ich hoffe aber, dass sich meine Ängste im Hinblick auf die USA, ähnlich wie die der Deutschen nach 1945, doch nicht bestätigen werden.
Angst als Mittel der Manipulation
Gibt es furchtsamere und weniger furchtsame Völker?
HITZER: Angst wird wie jedes andere Gefühl kulturell und historisch geprägt und kann niemals die ahistorisch feststehende Eigenschaft eines Volkes sein.
BIESS: Dem stimme ich zu. Als Historiker spreche ich nicht über Nationalcharakter. Mein Eindruck ist, dass Xenophobie, also die Angst vor Überfremdung, momentan in anderen Ländern stärker ausgeprägt ist. In den USA überlegen sie, Muslime nicht mehr einreisen zu lassen oder Millionen von illegalen Einwanderern zu deportieren, die hier aufgewachsen sind.
Teilen nicht alle westlichen Gesellschaften die gleichen Ängste, zumal die europäischen?
BIESS: Ich kann das nur historisch beantworten. Natürlich hatten auch die Franzosen in den 50er Jahren Angst vor einem Atomkrieg. In Deutschland war der Hintergrund aber immer die eigene Erfahrung des Bombenkriegs. Auch in anderen europäischen Ländern gab es eine Studentenbewegung, nur wendete sich da keine APO gegen vermeintlich allgegenwärtige Nazis. Auf der Seite der Rechten gab es die Angst vor der Revolution. In der Bundesrepublik waren solche Diskussionen extremer. Auch die Debatten um den Asylkompromiss waren noch sehr emotional, ab der Jahrtausendwende scheinen die Deutschen aber gelassener…
Sie meinen, die Deutschen haben den Umgang mit der Angst gelernt, sie sind desensibilisiert?
BIESS: Das könnte eine Schlussfolgerung aus der Angstgeschichte sein und aus dem Wissen, dass sich nicht alle Befürchtungen bestätigen. Dass die Realität stabiler ist als erwartet.
Welche Rolle spielte denn die Gründung der Europäischen Union für die Emotionen?
BIESS: Ursprünglich war die europäische Vereinigung auch ein Mittel gegen die Angst – vor Deutschland. Man wollte es in größere Strukturen einbinden, um eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Von Konrad Adenauer wissen wir, dass er große Sorge hatte, ob die Deutschen nicht erneut auf dumme Gedanken kämen. Das war eben nicht nur eine Befürchtung der Linken! Auch als Anerkennung dieser Leistung hat die EU 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. In dem Moment jedoch, in dem dieser antifaschistische Grundkonsens der Nachkriegszeit nicht mehr existiert, werden andere Dinge möglich. Der Aufschwung von populistischen, nationalistischen, teilweise rassistischen Bewegungen ist sicher eine Konsequenz davon.
Gemeinsame Emotionen schweißen zusammen. Ist Zugehörigkeitsgefühl ein Gegenprogramm zur Angst?
BIESS: Für die Deutschen war die europäische Identität sicher ein Ausweg. Die Kritiker der BRD haben sich jedoch mehr mit Deutschland identifiziert, als sie zugegeben hätten. Gerade weil sie erkannt haben, dass es bestimmte Werte in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gibt, die sie gegen mögliche Gefahren verteidigen würden. Genau wie derzeit das Bewusstsein für die amerikanischen demokratischen Essentials wächst, jetzt, da sie bedroht sind. Das Angebot von rechten Bewegungen ist auch, dass kollektive Identität so etwas wie Sicherheit verspricht. Das ist eine Erklärung des Wahlsiegs von Trump: Wir konzentrieren uns auf die weiße Mehrheit, die aufgrund demografischer Entwicklungen bedroht zu sein scheint.
Studien belegen, dass heute so viele Deutsche wie nie unter Angststörungen leiden, obwohl sie in nie dagewesenem Wohlstand und großer Sicherheit aufwachsen.
BIESS: Wenn Angst nicht mehr pathologisiert wird, sondern als legitimes Gefühl anerkannt ist, wird sie auch öfter empfunden, diagnostiziert, therapiert.
Was nicht erwünscht ist, wird auch nicht empfunden?
BIESS: Wir empfinden innerhalb von emotionalen Kulturen – eine rein individuelle Emotion kann es nicht geben. Emotionale Regime haben ihre eigenen Regeln. Helmut Schmidt beispielsweise verkörperte, dass man kühl und rational bleiben sollte, er hatte das so gelernt. Parallel existierten noch andere emotionale Regime. Die Friedensbewegung hat ihre eigenen Emotionsregeln aufgestellt, diese offene Demonstration von Angst. Auch ein Beweis für die pluralistische, liberale Gesellschaft, die Deutschland inzwischen geworden war. Der 68er-Schriftsteller Peter Schneider wendete sich in seiner Autobiografie explizit gegen die „emotionale Kälte“ der Nachkriegszeit. Man sieht das auch an der emotionalen Reaktion der Deutschen auf die Fernsehserie „Holocaust“ im Jahr 1978.
HITZER: Den Gefühlen wurde immer mehr Wirksamkeit zugetraut, auch auf der Ebene des Körpers. Ein Indikator dafür ist die Idee der „Krebspersönlichkeit“, die in den siebziger Jahren populär wird – Tumoren werden als körperliche Reaktion auf unterdrückte Gefühle begriffen. Seine Gefühle zu verstecken, so die damalige Vorstellung, kann also gefährlich sein.
Als Emotiologen untersuchen Sie Gefühle von historischen Subjekten – die können Sie nicht mal eben in einer Allensbach-Studie befragen. Wie gehen Sie vor?
BIESS: Wir lesen vertraute Quellen mit neuem Blick: politische Reden, Kommentare, Tagebücher, Briefe.
HITZER: Für mein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung beschäftige ich mich mit der Gefühlsgeschichte der Krankheit Krebs. Eine wichtige Quelle sind Fachzeitschriften, medizinische, psychologische, juristische, theologische. Diskutiert wird dort zum Beispiel: Wie bewegt man Patienten dazu, zu Früherkennungsuntersuchungen zu gehen? Macht man ihnen zu viel Angst, wenn man möglichst echte Nachbildungen von Tumoren zeigt? Und soll der Arzt dem Patienten überhaupt mitteilen, dass er Krebs hat – treibt er ihn damit in eine tödliche Verzweiflung?
Welche Gefühle in Gesellschaften welche Bedeutung haben, lässt sich auch gut an Kinderliteratur und Erziehungsratgebern ablesen.
HITZER: Um bei der Angst zu bleiben: Bei Wilhelm Busch war sie noch Erziehungsmaßnahme, in der Indianerliteratur Ende des 19. Jahrhunderts galt sie als problemlos überwindbar und notwendig, um die Tugend Tapferkeit zu erzielen. Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg wurde klar, dass Angst nicht so unproblematisch ist und ihre Überwindung der Unterstützung bedarf, wie etwa in Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“. Im Nationalsozialismus wird der Ängstliche als moralisch defizitär betrachtet. Nach 1945 setzt sich dagegen langsam die Erkenntnis durch, dass es besser ist, mit Kindern über ihre Ängste vor der Dunkelheit oder vor Monstern zu sprechen. „Mio, mein Mio“ oder „Krabat“ sind Beispiele für Helden, die Angst empfinden, aber dadurch ein Gespür behalten für Menschlichkeit.
Es scheint, als sei die Angst das wichtigste der Gefühle, eine Art Motor fürs Leben?
BIESS: Nach 9/11 sind wir sensibler dafür geworden, aber wir untersuchen auch andere Emotionen.
HITZER: Scham ist wichtig, Ekel, Hoffnung, Hoffnungslosigkeit, Liebe. Aber Angst zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, sie wird oft mit starken körperlichen Reaktionen verbunden. Politisch gesehen, ist sie vielfach an Entscheidungen geknüpft und Mittel der Manipulation. Das macht sie so interessant. Wir entdecken, wie mit Gefühlen und deren Vereinfachung Politik gemacht wird. Die Annahme, dass Gefühle unveränderbar und stets die gleichen sind, macht leicht blind dafür, wie sie geprägt, erzeugt und erzogen werden.
Das Gespräch mit den beiden Historikern führte Julia Prosinger.