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Zurück in die Siebziger. Mavie Hörbiger, Thomas Loibl und Laura Tonke im preisgekrönten Debütfilm „Sommerhäuser“.
© Filmfest München

35. Filmfest München: Signale aus einem saturierten Land

Kannibalische Kindermörder, bildstarke Softpornos und verschrobene Liebesgeschichten: Das Filmfest München feierte sein 35. Jubiläum mit vielen deutschen Kinopremieren - und Zuschauerrekord.

Es ist eine schöne dramaturgische Geste des Wetters, wenn es sich dem Filmgeschehen anpasst. Die erste Einstellung von Sonja Maria Kröners „Sommerhäuser“ zeigt einen mächtigen Baum, der vom Blitz gespalten wurde – ein Kommentar zum Tod der Gartenbesitzerin und Patriarchin Sophie. Im Sommer 1976 kommen ihre Hinterbliebenen unweit des Ammersees zusammen, im Hintergrund Wahlplakate mit Helmut Schmidt. Während die Erwachsenen – Ursula Werner, Günther Maria Halmer sowie Laura Tonke und Marvie Hörbiger als zerstrittene Schwägerinnen – über die Zukunft des Grundstücks beraten, auf dem sich auch ein schwindelerregend hohes Baumhaus befindet, verfolgen die Kinder ihre eigenen Wege.

Die Ferienidylle ist latent bedroht, ein Mädchenmörder mit kannibalischen Neigungen geht um. In ihrem psychologischen Freiluft-Kammerspiel, dessen Handlungsarmut bis zum tragischen Ende man nicht mögen muss, setzt die 38-jährige Absolventin der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film ganz auf die Mischung aus Sommergrün und Einsprengseln in einem Knallrot, wie es typisch für die 70er Jahre ist. Und dann schlägt während der Vorstellung der Blitz ins vollbesetzte Arri-Kino in der Münchner Maxvorstadt ein, so dass sich die Notbeleuchtung selbständig macht. Ein Geburtstagsgruß? Die HFF feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen, die legendäre Projektorenfabrik Arnold und Richter ihr hundertstes.

Ein guter Film müsse das aushalten, meint Christoph Gröner, Kurator der Reihe Neues deutsches Kino. In dieser Sektion präsentiert das Münchner Filmfest an neun Tagen so viele Premieren wie kein anderes Festival, diesmal waren es bis zum Samstag 18 Spiel- und zwei Dokumentarfilme.

Wenige der nominierten Filme hinterfragen gesellschaftliche Tendenzen

Ebenfalls mit der Wucht eines Blitzes muss Kröners Ensemblefilm die Jury des Förderpreises Deutsches Kino ereilt haben. Die Produzenten Verena Gräfe-Höft und Michael Weber sowie der Schauspieler Edgar Selge erkannten der Bayerin für ihren „Mut zum entschleunigten Erzählen“ den Preis in der Kategorie Beste Regie zu (30 000 Euro) sowie Philipp Worm und Tobias Walker 20 000 Euro für die beste Produktion. Der Förderpreis Schauspiel ging an Annika Meier als schlagfertiges weibliches Pendant zum Phlegmatiker Karl Schmidt (Charly Hübner, diesmal langhaarig) in „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“ und an. Arne Feldhusens stimmige Verfilmung des Techno-Szene-Romans von Sven Regener ist eine Angelegenheit für Fans. Für das Drehbuch zu „Lomo – The Language of Many Others“ wurden Julia Langhof, die auch Regie führte, und Thomas Gerhold ausgezeichnet, zu Recht. In Zehlendorf entspinnt sich ein Generationskonflikt, dessen digitale Auswüchse sowohl den 17-jährigen Blogger Jonas (hervorragend: Jonas Dassler) als auch dessen heimlich gefilmte Eltern zu Verlierern machen. Selbst die Bausenatorin sieht sich, an ihrer unbequemen Strumpfhose nestelnd, ungefragt ins Netz gestellt. Nur im Schlaf findet Jonas Ruhe vor dieser „augmented reality“, während seine Follower nach Art eines antiken Chores unersättlich Taten fordern.

„Lomo“ hinterfragt als einer wenigen unter den 16 für den Debütpreis nominierten Filmen gesellschaftliche Tendenzen. Edgar Selge meinte, es sei für die Nachwuchsfilmer eines der reichsten und sichersten Länder der Welt offenbar schwierig, substantiell zu erzählen. Er habe überall Leere und Einsamkeit gespürt und als deren Folge den Wunsch nach einer Ethik der Gemeinschaft. Am explizitesten stellt sich dem im ungeschlachten Hinterland des Berliner Hauptbahnhofs „Der lange Sommer der Theorie“, wobei sich Irene von Alberti für ihren teils komischen, teils unentschieden mäandernden Experimentalfilm den gleichnamigen Buchtitel von Philipp Felsch geliehen hat. Der Historiker tritt als Interviewpartner zum Thema Selbstoptimierung auf. Die handgestrickte Theorieerkundung vom Staatsfeminismus über „Berlin als Stadtkörper“ erinnert auf sympathische Weise an die Küchentisch-Plena in Rudolf Thomes „Berlin Chamissoplatz“ von 1980. In Stephan Lacants „Fremde Tochter“ wiederum, inszeniert in Mannheimer Hochhäusern und Moscheen, verliebt sich eine ruppige Teenagerin (Elisa Schrott) in einen Moslem (Hassan Akkouch), wird schwanger und gerät in ein Labyrinth widersprüchlicher Normen.

Bildstarker Softporno und schrilles Filmexperiment

Bei Jan Henrik Stahlbergs Film „Fikkefuchs“ bestand das Publikum in München zu etwa 90 Prozent aus Männern. Ein zunächst etwas etwas tumb wirkender, triebgesteuerter Sohn (Franz Rogowski) besucht seinen unbekannten, nicht minder triebgesteuerten Vater (Stahlberg) in Berlin: Cherchez la femme im Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals. Um sich die Ausschnitte aus Internetpornos durch eine eventuelle Senderbeteiligung nicht nehmen zu lassen, setzte Stahlberg als eine Art Chefironiker vom Dienst („Muxmäuschenstill“) von Anfang an auf die Finanzierung durch Crowdfunding – 70 000 Euro des Gesamtetats von 126 000 kamen so zusammen. Das Ergebnis bleibt zwiespältig.

Als Dystopie im kalifornischen August 2019 tarnt RP Kahl seinen todessehnsüchtigen, bildstarken Softporno „A thought of Ecstasy“: eine eher missglückte Kuriosität mit raunender amerikanischer Erzählerinnenstimme. Während mehrere Produktionen der grassierenden Seuche der Romantic Comedy erliegen, wagt Lola Randl mit „Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer?“ ein schrilles Experiment in Komplementärfarben: Die überforderte Psychotherapeutin Luisa (Lina Beckmann mit Mut zu Grimassen) erlebt eine Ich-Abspaltung. Kurzentschlossen lässt sie ihre Doppelgängerin im Musterhaus beim braven Ehemann (Charly Hübner mit Pferdeschwanz) und vergnügt sich mit ihrem präpotenten Lover Leopold, den Benno Fürmann hinreißend selbstironisch darstellt.

Mit „Blind & hässlich“ ist Tom Lass eine wunderbare Liebesgeschichte gelungen

Eine wunderbare, verschroben-zärtliche Liebesgeschichte voller hintersinniger Dialoge ist Tom Lass mit „Blind & hässlich“ gelungen. Erfreulicherweise wurde er dafür zum Abschluss des Festivals, das mit Ehrengästen von Nastassja Kinski über Sofia und Eleanor Coppola bis Reinhard Hauff aufwartete, mit dem Fipresci-Preis des Internationalen Kritikerverbandes geehrt. Der sich als hässlich empfindende Ferdinand, gespielt vom Regisseur selbst, verguckt sich im Umfeld eines Britzer Behindertenwohnheims in Jona (Naomi Achternbusch), die sich unter Anleitung ihrer tatsächlich blinden Cousine blind stellt, um an eine eigene Wohnung zu kommen.

Am Ende liegen sich nicht nur die scheuen Verliebten, sondern auch der Hauswart und die Polizei in den Armen und wissen kaum, wie ihnen geschieht. Eben dieses seltsame Glücksgefühl erhoffen sich auch die Zuschauer in München, wenn sie ins Kino strömen. 81 500 waren es diesmal – ein Rekordwert.

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