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Da geht noch mehr. Comicleser beim Fumetto-Festival in Luzern.
© Lars von Törne

Deutsche Comicszene: Sie können auch anders

Die deutschsprachige Comicszene profiliert sich mit einer wachsenden Vielfalt an Themen und Stilen - in Kürze auch beim Toronto Comic Arts Festival TCAF.

Deutschsprachige Comics haben kommende Woche beim Toronto Comic Arts Festival (TCAF) einen großen Auftritt: Es gibt einen Deutschen Pavillon, in dem in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Toronto und dem Internationalen Comic-Salon Erlangen ein Dutzend Gäste aus Deutschland - darunter Anna Haifisch, Ulli Lust und Martina Schradi - die heimische Comicszene präsentieren. Im Gegenzug präsentiert sich die aktuelle kanadische Comicszene kommendes Jahr beim Comic-Salon. Drei Ausstellungen geben in Toronto Einblicke in die Arbeit von Haifisch, Schradi sowie einen Überblick über aktuelle deutsche Comics. Letzter basiert auf einem kommentierten Katalog mit deutschsprachigen Neuerscheinungen, der von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne für die Auslandsarbeit der Frankfurter Buchmesse zusammengestellt wurde. Den zweisprachigen Katalog mit dem Titel „A House United“ gibt es hier als PDF zum Herunterladen. Er wird in diesem Jahr in Kooperation mit dem Goethe-Institut und dem Deutschen Comicverein auf zahlreichen Buchmessen und anderen Fachveranstaltungen präsentiert, teilweise zusammen mit der Ausstellung, die jetzt in Toronto erstmals gezeigt wird. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier das Vorwort des Katalogs.

Vom Leben inspiriert. Das Cover von "Süße Zitronen".
Vom Leben inspiriert. Das Cover von "Süße Zitronen".
© Jaja

Eine Zeitlang schien es so, als beschränke sich die kreative Energie deutschsprachiger Comicschaffender und ihrer Verlage vor allem auf drei Genres, mit denen man sich bei Lesern, Medien und dem Buchhandel besonders viel Zuspruch erhoffte: Literaturadaptionen, (Auto-)Biografien und Zeitgeschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus und DDR. Ein genauerer Blick auf die aktuellen Comics aus heimischer Produktion zeigt: Da geht noch mehr.

Adaptionen als eigenständiges Werk

Zwar finden sich auch unter den Neuerscheinungen der vergangenen zwei Jahre Vertreterinnen – ein Drittel der in dieser Auswahl vorgestellten Comicschaffenden ist weiblich – und Vertreter jener drei Genres. Und deren Arbeiten beweisen, dass es durchaus lohnend sein kann, sich in diesen etablierten Bereichen zu bewegen. So führen Joachim Brandenberg, Flix und Bernd Kissel, Frank Flöthmann, Jakob Hinrichs, Isabel Kreitz sowie Franziska Walther in ihren von O. Henry, den Geschichten vom Baron Münchhausen, Shakespeare, Hans Fallada, Konrad Lorenz und Goethe inspirierten Büchern exemplarisch die Vielfalt der Möglichkeiten des Comics vor, literarische Vorlagen nicht einfach nur zu bebildern, sondern sich auf originelle Weise anzueignen. Und darüber hinaus als Ausgangspunkt einer Bilderzählung zu nehmen, bei der die Adaption als eigenständiges literarisch-künstlerisches Werk bestehen kann.

Fantastisch: Das Cover des ersten Sammelbandes von "A House Divided".
Fantastisch: Das Cover des ersten Sammelbandes von "A House Divided".
© Carlsen

Tobi Dahmen, Hamed Eshrat, Sascha Hommer, Nils Oskamp, Sebastian Rether, Daniela Schreiter und Burcu Türker wiederum belegen mit ihren (auto-)biografischen Erzählungen, dass die eigene Lebensgeschichte oder wie in Rethers Fall die des Großvaters durchaus Material für einen herausragenden Comic sein kann – wenn man sich nicht darauf beschränkt, die Banalität des Alltags zu thematisieren, sondern eine außergewöhnliche Geschichte hat und dazu ein originelles Konzept, wie sich diese visuell umsetzen lässt.

Quer durch alle Genres

Und dass historisch-politische Themen weit mehr als der Stoff von gestern sind, führen die erzählerisch packenden und grafisch ausgereiften Arbeiten von Kristina Gehrmann, Lukas Kummer, Birgit Weyhe, Barbara Yelin und David Polonsky vor Augen. Sie alle machen durch ihre Themenwahl – Franklin-Expedition 1845, Dreißigjähriger Krieg, mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR, die Lebensgeschichte der deutsch-israelischen Schauspielerin Channa Maron – zudem deutlich, dass in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zwar nach wie vor spannende Stoffe zu entdecken sind, dieses aber bei weitem nicht die einzige für deutsche Zeichner ergiebige Periode der Menschheitsgeschichte ist.

Hausgemachter Horror: Eine Seite aus "Malcolm Max" von Peter Mennigen und Ingo Römling.
Hausgemachter Horror: Eine Seite aus "Malcolm Max" von Peter Mennigen und Ingo Römling.
© Splitter

Die Hälfte der in diesem Katalog vorgestellten Werke allerdings lässt sich drei anderen Bereichen zuordnen, die hierzulande noch Nachholbedarf haben, gerade im Vergleich zu traditionellen Comicnationen wie Japan, den USA oder dem frankobelgischen Raum: fiktionale Alltagsdramen sowie Genrestoffe und Humor-Strips. Fiktionale Comicerzählungen wie die von Max Baitinger, Aisha Franz, Alice Socal und Olivia Vieweg gehören zu den herausragenden Arbeiten dieses Jahrgangs. Sie führen eindrucksvoll vor, welches Potenzial private, aber nicht zwingend persönliche Stoffe haben, wenn sie von talentierten Zeichnern und Autoren entwickelt werden – das Ergebnis sind Graphic Novels im besten Sinne, wenn man den schillernden und im deutschen Sprachraum uneindeutigen Marketingbegriff, der in Nordamerika nahezu für jeden Comic in Buchform benutzt wird, denn wortwörtlich als „grafischer Roman“ übersetzen möchte.

Eine Lücke wird gefüllt

Den erfreulichsten Zuwachs gibt es bei den Genrestoffen. Dass die lange beklagte Lücke bei heimischen Produktionen in diesem Bereich zumindest langsam gefüllt wird, ist Zeichnern und Autoren wie Jörg Buttgereit und Levin Kurio, dem Schweizer Trio Benedikt Eppenberger, Gregor Gilg und Barbara Schrag, David Füleki, Haiko Hörnig und Marius Pawlitza, Daniel Lieske, Peter Mennigen und Ingo Römling, James Turek, Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter sowie Nana Yaa zu verdanken: Sie alle nehmen in ihren Büchern, Heften und Serien bekannte Motive aus Science Fiction, Fantasy, Märchen, Horror, Krimi, Roadmovies oder Western auf und verbinden sie kreativ mit eigenen Ideen.

Clash der Kulturen: Eine Seite aus "Golem im Emmental" von Benedikt Eppenberger, Gregor Gilg und Barbara Schrag.
Clash der Kulturen: Eine Seite aus "Golem im Emmental" von Benedikt Eppenberger, Gregor Gilg und Barbara Schrag.
© Edition Moderne

Bemerkenswert ist, dass gerade in diesem Bereich mehrere Autor-Zeichner-Teams arbeiten, wie es in Deutschland anders als im Ausland lange nicht üblich war. Vielleicht ist eine Erklärung dafür, dass Genre-Fiktion in besonderem Maß davon profitieren kann, wenn sich ein Autor ganz auf die Story und ein Künstler ganz auf die visuelle Umsetzung konzentrieren kann, von den Zeichnungen und dem Seitenaufbau bis zu Kolorierung und Lettering. Oder liegt es eher daran, dass gerade in diesem Bereich Verkaufszahlen erhofft werden, die die Entlohnung eines Teams statt eines Einzelkämpfers erlauben? Gut täte eine solche Arbeitsteilung und das damit verbundene Eingeständnis, dass nicht jeder gute Zeichner auch ein guter Autor ist (oder umgekehrt), auf jeden Fall auch anderen Bereichen des deutschsprachigen Comicschaffens.

Große Vielfalt bei Mangas und Kindercomics

Ebenfalls kein Zufall ist es, dass zwei der hier genannten Autoren sich in erster Linie als Mangazeichner einen Namen gemacht haben. Gerade bei den Genrestoffen sind in letzter Zeit von deutschen Manga-Autorinnen und -Autoren – bei den japanisch inspirierten Comics überwiegen anders als in der übrigen Comicszene schon seit Jahren die Frauen – etliche interessante Erzählungen und Serien veröffentlicht worden.

Menschliche Maus: Eine Seite aus Anna Haifischs "Von Spatz".
Menschliche Maus: Eine Seite aus Anna Haifischs "Von Spatz".
© Rotopolpress

Deren Vielfalt kann hier aus Platzgründen nur angedeutet und anhand der Arbeiten von Nana Yaa und David Füleki exemplarisch vorgeführt werden. Die deutschsprachige Mangaproduktion der vergangenen Jahre, die sich primär an ein jugendliches Publikum richtet, könnte problemlos einen weiteren Katalog wie diesen füllen. Ähnliches gilt für den qualitativ wie quantitativ rapide wachsenden Bereich deutschsprachiger Kindercomics, der durch Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter hier ebenfalls nur exemplarisch vertreten ist.

Neues Leben für ein altes Format

Auf gutem Wege, wenngleich mit wirtschaftlich bedingten Schwankungen, ist der Bereich der – meist humorvollen – Comicstrips. Diese Urform des modernen Comics, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ihren Anfang nahm, hat in den vergangenen Jahren im Internet wie auch in deutschsprachigen Zeitungen einerseits eine Renaissance erlebt. Andererseits wurden in jüngster Zeit manche Serien aus Spargründen von wirtschaftlich gebeutelten Zeitungen wieder eingestellt. Beispielhaft zeigen die in Buchform veröffentlichten Sammelbände der Arbeiten von Sarah Burrini, Flix und Mawil, wie unterhaltsam, reflektiert und ideenreich dieses mehr als 100 Jahre alte Genre sein kann, wenn eine neue, postmoderne Zeichnergeneration sich mit der Tradition ihrer künstlerischen Urahnen auseinandersetzt und sich das Strip-Format für die eigenen Zwecke aneignet.

Klassisches Format: Ein Strip aus Sarah Burrinis "Das Leben ist kein Ponyhof".
Klassisches Format: Ein Strip aus Sarah Burrinis "Das Leben ist kein Ponyhof".
© Panini

Dies gilt auch für die Arbeiten von Anna Haifisch, deren groteske Kurzgeschichten zwar formal nicht dem klassischen Zeitungsformat folgen und auch nur teilweise in serieller Form veröffentlicht werden, bevor sie als Buch erscheinen. Ihre Comics können aber durchaus auch als Liebeserklärung an die Pioniere des Mediums gelesen werden.

Auf Augenhöhe mit etablierten Comicnationen

Generell lässt sich die hier diagnostizierte Vielfalt an Themen und Stilen als Ausdruck eines zunehmenden Selbstbewusstseins der deutschen Comicschaffenden interpretieren. Mit wachsender Souveränität bewegen sie sich auch in Genres, die auf den ersten Blick weniger Sicherheit zu bieten scheinen als die im Buchhandel inzwischen verhältnismäßig gut etablierten Comicbereiche Literaturadaption, (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte. Abenteuerlustig wagen Zeichner und Autoren sich in weniger klar abgesteckte Bereiche vor, nehmen mit offenen Augen Impulse aus aller Welt und der Kulturgeschichte auf, verknüpfen sie mit Traditionen des eigenen Kulturkreises und interessanten Fundstücken aus ihrem Alltag.

Auf dieser Grundlage schaffen sie – und die oft von hohem persönlichem und finanziellem Einsatz ihrer Gründer getragenen deutschsprachigen Comicverlage – eine stetig wachsende Zahl von sequenziellen Bilderzählungen, die mit ihrer inhaltlichen und formalen Vielfalt auch routinierte Comicleser noch überraschen können. Zugleich werden die etablierten Genres stetig mit neuen Anregungen weiter belebt und ausgebaut.

Zumindest in qualitativer Hinsicht braucht die deutschsprachige Comic-Community den Vergleich mit anderen Comicnationen schon seit einigen Jahren nicht mehr zu scheuen. In den vergangenen zwei Jahren ist ihre Position im In- wie im Ausland noch ein wenig stärker geworden.

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