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Sibyl (Virginie Efira) sucht für ihren neuen Roman Inspiration bei einer jungen Patientin. Dabei gibt ihr eigenes Leben genug Stoff her.
© Alamode

Französische Filmkomödie: "Sibyl – Therapie zwecklos" ist eine raffinierte Neurosenschau

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs? Die furiose Virginie Efira unterläuft als Sibyl sämtliche Stereotypen.

Der Cursor blinkt, der Monitor bleibt leer. Die Pariser Psychotherapeutin Sibyl hat sich von der Mehrzahl ihrer Patienten getrennt, um wieder mehr Zeit zum Schreiben zu finden. Aber so ein Roman braucht Figuren, Ereignisse, Leben. Fragt sich nur, woher.

Zum Glück meldet sich die Schauspielerin Margot bei Sibyl, aufgelöst, verzweifelt. Sie ist schwanger von Igor, dem Star am Set, der aber mit der Regisseurin liiert ist und das Kind trotzdem will. Margot dagegen fürchtet um ihre Karriere. Sibyl betreut sie fortan, schneidet heimlich die Gespräche mit. Ihr Roman schreibt sich jetzt fast von selbst.

Erst recht, als sie den Filmleuten nach Stromboli hinterherreist, um Margots Gemütsschwankungen nach der Abtreibung abzufedern. Stromboli, ausgerechnet: der Vulkan, Rossellini, Ingrid Bergman … Sandra Hüller als deutsche Regisseurin Mika setzt noch eins drauf mit ihrer fordernden, irrlichternden Verve. „Nervenzusammenbruch?“, konstatiert sie. „Ein Luxus, den ich mir gerade nicht leisten kann.“

Schocktherapie eines Klischees

Frauen als Nervenbündel, überfordert zwischen Job und Mutterrolle, Broterwerb und Kreativschüben, allemal im Krieg miteinander. Bitte nicht wieder dieses Muster, denkt man zuerst. Aber die Filmemacherin Justine Triet, Jahrgang 1978, unterzieht das Stereotyp von der Neurotikerin einer Schocktherapie. Sie eskaliert das Geschehen, um im nächsten Moment in purer Schaulust zu schwelgen, verwischt Identitäten, verwirbelt Zeitebenen, Genres und andere Gewissheiten. Close-ups in dunklen Räumen wechseln sich ab mit knalligen Farben, Indigoblau und kräftigen Rot- und Brauntönen.

Manche Dialoge sind von einer fast unheimlichen Stille eingehegt, im nächsten Moment herrscht pure Hysterie. „Sibyl – Therapie zwecklos“ ist eine Dramödie, nebenbei auch eine schwarzhumorige Farce über die Filmbranche selbst

Anfangs gibt das Sprechtempo der Intellektuellen-Bohème den Takt vor, wie man es aus französischen Filmen seit Eric Rohmer kennt. Einen Takt, den Justine Triet allerdings ständig wechselt; so wird „Sibyl“ zum Virtuosenstück des Stop-and-go.

Trockene Alkoholikerin und souveräne Psychiaterin

Hat noch jemand den Überblick? Sibyl, die trockene Alkoholikerin und souveräne Psychiaterin, die mehr und mehr aus der Bahn gerät. Ihre Schwester, traumatisiert vom Jahre zurückliegenden Unfalltod der ebenfalls trinkenden Mutter. Sibyls Patchworkfamilie mit duldsamem Ehemann und der kleinen Selma, die ungemütliche Fragen stellt und noch ungemütlichere Blicke wirft.

Der Junge Daniel, ihr Kinderpatient, der sie nicht nur im Monopoly herausfordert … Triet und ihr Co-Autor Arthur Harari muten dem Publikum viel Personal zu und halten die Fäden doch fest in der Hand.

Hinzu kommen die harten Schnitte, die unvermuteten Rückblenden. Die Vergangenheit mit Sibyls Lover Gabriel, leidenschaftlichem Sex am Kamin, Clubnächten und Kettenrauchen statt E-Zigarette platzt in die Gegenwart. Nichts ist erledigt, keine Wunde verheilt. Schon bald werden die Frauen zu Spiegel- und Zerrbildern füreinander.

Nicht auszumachen, wer hier wen manipuliert, während die Männer (Gaspard Ulliel, Niels Schneider) Objekte der Begierde bleiben. Bis zum Ausgleich des dominanten Männerblicks in der Filmgeschichte braucht es noch reichlich solcher Filme.

Weltpremiere in Cannes

Wobei Triet raffiniert genug ist, jedes ihrer Bilder mit einem Hauch Verklärung, Karikatur oder Künstlichkeit zu versehen. Alleine das Meer und der Himmel über Stromboli – es ist alles zu schön, um wahr zu sein (Kamera: Simon Bofils). Erst recht das Melodram, das unter Mikas Regie an der Felsenküste und auf Segelbootplanken gedreht wird.

Der Soundtrack des Films, der 2019 im Cannes-Wettbewerb seine Weltpremiere feierte, sorgt für zusätzliche Irritation, von einer sich verzerrenden Klavier-Oktav über eigensinnige Vivaldi- und Mozart-Anleihen bis zu Sibyls spontanen Party-Performances mit Blues- und Disco-Klassikern.

Sandra Hüller verblüfft mit barscher Lakonie

Spielen sie? Lügen sie? Erfinden sie? Die überbordende Energie und Fabulierlust der Frauen, die hre vermeintlichen Schwächen Lügen straft, verdankt sich nicht zuletzt dem Temperament der Schauspielerinnen.

Virginie Efira als Sibyl, eine Art Bridget Jones auf Französisch, beweist nach ihrer Rolle als Anwältin in „Victoria“ zum zweiten Mal unter Triets Regie, dass sie mehr kann als Komödie. Adèle Exarchopoulos („Blau ist eine warme Farbe“) changiert als Margot souverän zwischen Allüren und Selbstbehauptung, und Sandra Hüller verblüfft einmal mehr mit ihrer barschen Lakonie.

„Mein Leben ist ein Roman. Ich kann es nach Belieben umschreiben“, heißt es gegen Ende. Schade, dass Triet die Filmsätze zuguterletzt mit Bedeutsamkeit auflädt und ihre Titelheldin zum Wrack demontiert. Sibyl, die Frau, der man sich bis dahin so nahe fühlte, ist eine andere.
In den Berliner Kinos Kant, Filmkunst 66, Kulturbrauerei, FSK (OmU)

Christiane Peitz

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