Im Kino: "Blau ist eine warme Farbe": Blitzschlag der Liebe
In Cannes provozierten die Sexszenen einen Skandal. Dann gewann „Blau ist eine warme Farbe“ von Abdellatif Kechiche die Goldene Palme. Nun kommt der Film um Adèle und Emma, das Leinwandpaar des Jahres, in die Kinos.
Adèles Haar. Eine wilde, durch keine Frisur zu bändigende Pracht. Adèle steckt es hoch, zieht es mit einer Strähne fest, löst das Knäuel auf, indem sie an der Strähne zieht, oder sie lockert es, oder lockt sie nur, und schon fallen ihr die hellbraunen Strähnen über die Augen, hellbraun wie das schimmernde Haar. Ja, Adèles Haar: ein einziges Signal. Jugend. Unordnung. Aufräumen können wir später.
Und dann ist da Emmas Haar. Es ist kurz, sorgfältig verwuschelt, blassblau gefärbt, eine Emma-Kreation, ein Alleinstellungsmerkmal der jungen Malerin in jenem Frühling damals in Lille. Später wird es leuchtend blond sein und noch später von einer Farbe, die sich nicht recht einprägen will, und besonders kurz. Ein Signal auch das: Ich bin aufmerksam mit mir und der Welt, ich verstecke mich nicht. Ja, und wenn du mich liebst, nur zu.
Oder Adèles Mund. Es ist ein Kindermund am Anfang, ein Schlafemund, die leicht geschürzte Oberlippe lässt die Schneidezähne sehen, so atmet Adèle, die Kamera sehr nah, in ruhigen und unruhigen Träumen. Ein Daumenlutscherinnenmund, dem nur mehr die Verletzlichkeit geblieben ist, ein Mund, der spricht, auch wenn Adèle schweigt; ein Mund, der spricht, wie ihre Augen, ihre Hände, ihr Haar. Emmas Mund dagegen: vor allem schön. Schön geschwungen, makellos. Fast ein Gemälde.
So geht das los: Adèles hellbraune Augen sehen Emmas Mund, eine Frühlingstagsbegegnung auf der Straße; und Emma sieht Adèle, die Emmas Mund sieht oder ihr blaues Haar, und beide drehen sich um, während sie weitergehen. Emma, die Kunststudentin Mitte 20, hat eine Geliebte im Arm, und die einzelgängerische Schülerin Adèle träumt ängstlich und durstig von der Liebe zu Frauen. In diesem coup de foudre, dem Liebesblitzschlag, ist alles enthalten. Ein paar Wiedersehen weiter, und die zwei werden endlich, absolut und explizit, Sex haben. Liebe machen. Sich lieben.
Sieben Minuten, in denen zwei Frauen einander trinken, begreifen, genießen, erkennen
Sieben Minuten dauert die erste Sexszene zwischen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos in Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“ (Original: „La vie d’Adèle“), und damit ist sie die womöglich längste Nichtporno-Sexszene der Filmgeschichte. Länger als die wilden Umklammerungen in Patrice Chéreaus „Intimacy“, länger als die atemberaubende Eröffnung von „Hemel“, dem Debüt der Niederländerin Sacha Polak, das soeben im Kino lief. Sieben Minuten, in denen zwei Frauen einander trinken, begreifen, genießen, erkennen. Zwei Liebende.
In Cannes im Mai, wo dieser Film vor aller Augen geboren wurde in einem fast dreistündigen gewaltigen Akt, fragten manche Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen, kaum dass die erste Erschütterung und Erschöpfung bewältigt war: Muss das sein? Und: Braucht es kurz danach noch zwei – kürzere – ähnliche Sexszenen? Ja, es muss sein. Denn das unersättliche Stürzen in den Sex, oder ist es nicht vielmehr ein Hineinfliegen, erklärt fundamental, was fortan Adèles Leben bestimmt. Sie, die mit einem netten Jungen geschlafen hat, um der Neugier der Mitschülerinnen standzuhalten, sie, die sich vorsichtig herangeküsst hat an ein anderes Schulmädchen, das diese Nähe allerdings nur an- und aus- und wegprobiert, sie ist hineingestürmt in ihre Mitte.
Natürlich bleibt das so nicht. So wie Adèle nun von ihren sogenannten Freundinnen als „gouine“, als Lesbe ihre barsche Ausgrenzung auf dem Schulhof erfährt, so findet sie sich an der Seite Emmas bald erneut als Außenseiterin wieder. Adèle will, bodenständig und sozial nützlich, Grundschullehrerin werden. Emma dagegegen strahlt, neben ihrer Sinnlichkeit, Intellektualität aus; ihre Freunde sind Künstler oder zumindest Künstlerdarsteller, Galeristen, kultivierte Schwadroneure. Und während Emma grazil hinaufklettert im fragilen Netz des Erfolgs, bleibt Emmas „Muse“ Adèle der Abwasch. Und toll Spaghettisoße kochen kann sie auch.
Der Film wurde in Cannes als homosexuelles Manifest missverstanden
Eine Liebesgeschichte also, eine hundsnormale – kaum sind die beiden zusammengezogen und nach einem grausig ausgetragenen Streit wieder auseinander? Ja, auch das soll so sein, und es ist herzzerreißend anzuschauen. Adèle hört nicht auf, Emma zu lieben, sie glättet nur ihr Haar und ihr Leben, weil der Beruf das so verlangt. Auch Emma, die sich bald privat unanfechtbar anderweitig organisiert, hat mit dem Adèle-Lieben nicht wirklich aufgehört, weil nie wirklich aufhört, was einmal lebenswichtig war. Hierfür gibt es eine fünf oder neun Minuten lange Szene in einem Café, nach Jahren; in das Geschehen schneidet sie hinein wie ein Messer, denn in ihr wird ein Fühlen schmerzhaft und rückhaltlos offenbar.
Gewiss ist da die behutsam geführte Handkamera, gewiss sind da Drehbuchsätze, natürlich bleibt das, bevor ich’s vergesse, ein Film. Aber Abdellatif Kechiche ist es – seit „Voltaire ist schuld“, „L'esquive“, „Couscous mit Fisch“ und auch „Vénus noire“, der in Deutschland nicht ins Kino kam – immer um äußerste Wahrhaftigkeit zu tun, jene, die man nur mit künstlerischen Mitteln herstellen kann. Wobei er das Wesentliche seiner Figuren über die Sprache ihrer Körper mindestens so sehr wie über ihr Denken erschließt. Tatsächlich begibt sich, wer sich auf das Abenteuer dieses Films einlässt, mit Haut und Haar in ein anderes, zwei andere und vielleicht das eigene parallele Leben.
Der Rest ist Getöse. Weil „Blau ist eine warme Farbe“ in Cannes die Goldene Palme gewann, wurde er prompt, weil das damals innenpolitisch passte, als homosexuelles Manifest missverstanden. Es ging weiter, als Julie Maroh, Autorin der sehr frei verwendeten Comic-Vorlage, die Sexszenen als bloß dem männlichen Blick geschuldet geißelte. Und noch weiter, als Léa Seydoux sich von ihrem Regie-Berserker Kechiche distanzierte – als hätte es die harmonische Rührung zu dritt, die Schauspielerinnen gemeinsam mit Kechiche, in Cannes nie gegeben.
Getöse verklingt. Was bleibt, ist der Film. Er bleibt wie die Liebe, Adèles Liebe. Und wie Emmas einbetonierte Liebe auch.
In Berlin in folgenden Kinos: Capitol, Cinema Paris, Cinemaxx, FaF, Kulturbrauerei, Passage; OmU in den Hackeschen Höfen und im Neuen Off
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